Geraubte Kindheit
Hilfe für ehemalige Kindersoldaten in Kolumbien
Catalina und Manuel haben als Kindersoldaten in Kolumbien Gewalt und Leid erfahren. Mit Hilfe von Don Bosco fanden sie in ein normales Leben zurück.
veröffentlicht am 29.05.2017
Catalina* tanzt gerne, am liebsten Flamenco und Tango. Der Tanz hilft ihr, die Vergangenheit zu vergessen. Eine Vergangenheit, die von Gewalt, Missbrauch und Unsicherheit geprägt ist. Die 19-Jährige war Kindersoldatin in Kolumbien – genau wie der gleichaltrige Manuel*. Noch heute hat er Albträume von seiner Zeit als Kindersoldat. Die Vergangenheit hat tiefe Narben bei ihm hinterlassen.
Zusammen mit seinem älteren Bruder schloss er sich freiwillig einer Guerillagruppe an. „Die Rebellen und vor allem ihre Waffen faszinierten uns. Das Leben der jungen Soldaten wirkte auf uns wie ein spannendes Abenteuer“, erklärt der 19-Jährige, der zurzeit eine Ausbildung in der Ciudad Don Bosco in Medellín macht. Was es wirklich bedeutet, Dienst an der Waffe zu tun und den Rebellen zu folgen, konnten die Brüder damals noch nicht überschauen. Bald holte sie die harte Realität ein. Sie mussten nachts Wache schieben, hatten kaum Schlaf und oft Hunger. Menschliche Wärme oder Zuneigung kannten sie nicht. Drogen halfen ihnen, den Hunger und auch die willkürliche Gewalt zu ertragen. Schon bald bereuten sie es, sich der Gruppe angeschlossen zu haben. Doch ein Zurück gab es nicht mehr.
Schmerzliche Verluste
Manuel riss mit acht Jahren zusammen mit seinem Bruder von zu Hause aus. Seine Familie lebte in großer Armut und hatte nicht genug zu essen. Die Brüder lebten auf der Straße, schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch oder auch kleinen Diebstählen. Das schlimmste Erlebnis für Manuel war der Tod seines Bruders. Bis heute hat er den Verlust nicht überwunden. Sein Bruder wurde von der eigenen Truppe erschossen – wegen Ungehorsams. Mehrmals war er von dem Kommandanten verwarnt worden, weil er sich Befehlen widersetzte. Dann wurde er am helllichten Tag exekutiert.
„Wir umarmten uns und dann sagte er nur: ‚Pass auf dich auf. Ciao.‘ Ich sah ihn nie mehr wieder. Mit diesem Erlebnis hat sich für mich alles verändert. Ich hatte nicht nur meinen Bruder, sondern auch meinen einzigen Vertrauten und Freund verloren“, erzählt Manuel mit gebrochener Stimme. Danach wollte er nicht mehr bei der Truppe bleiben und entschloss sich, zu fliehen. Im Andenken an seinen Bruder hat sich Manuel seinen Namen auf die Fingerknöchel tätowieren lassen.
Catalina verlor während ihrer Zeit bei den Rebellen ihren Lebensgefährten. Auch sie schloss sich einer Guerillagruppe freiwillig an. „Ich lief mit 13 Jahren von zu Hause weg, weil mein Stiefvater ständig betrunken war und mich verprügelte. Er versuchte sogar, mich zu vergewaltigen.“ Doch ihre Mutter, der sie sich anvertraute, glaubte ihr nicht. Dann begann sie, Drogen zu nehmen, und lebte fast nur noch auf der Straße. Auch ein Selbstmordversuch liegt hinter ihr.
Im Zuge des neuen Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der Rebellengruppe FARC wurden im November 2016 erste Kindersoldaten freigelassen. Die Rekrutierung von Kindern wurde in Kolumbien nicht nur von der FARC, sondern auch von den ELN-Rebellen und anderen paramilitärischen Vereinigungen vollzogen. Zehntausende wurden allein von den FARC-Rebellen rekrutiert. Obwohl der Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten strafrechtlich geahndet wird, sind nach Angaben von UNICEF weltweit rund 250.000 Jungen und Mädchen als Soldaten im Einsatz.
Soziale Defizite
Die Wiedereingliederung von ehemaligen Kindersoldaten in die Gesellschaft stellt eine große Herausforderung dar. „Die Jungen wurden ausgebildet, um Schmerzen zuzufügen, zu töten und Leichen zu zerstückeln. Die Mädchen wurden von den Offizieren missbraucht und viele hatten Abtreibungen. Sie wissen, wie es sich anfühlt, nur noch sterben zu wollen. Diese Traumata müssen sie erst bewältigen, bevor sie die Chance auf ein neues Leben haben“, so Pater Rafael Bejarano, Direktor der Ciudad Don Bosco in Medellín.
Ihre Familien oder frühere Freunde wollen oft nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sie grenzen sie aus, weil sie „Blut an ihren Händen“ haben. Denn manche mussten auf Befehl der Rebellen sogar eigene Familienangehörige umbringen.
Um die Traumata zu überwinden, brauchen ehemalige Kindersoldaten professionelle Hilfe. Bei Don Bosco sind Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeiter rund um die Uhr im Einsatz. Vor allem müssen die Jungen und Mädchen wieder die Regeln des sozialen Zusammenlebens erlernen. „Die Jugendlichen haben den Großteil ihres Lebens damit verbracht, Befehle zu befolgen, ohne sie infrage zu stellen oder gar zu widersprechen. Jetzt müssen sie wieder ganz alltägliche Formen des Zusammenlebens lernen und sie müssen Verantwortung für ihr Verhalten und ihre Mitmenschen übernehmen“, so James Areiza, Koordinator des Schutzprogrammes für Kindersoldaten der Ciudad Don Bosco.
Vor 15 Jahren haben die Salesianer in der kolumbianischen Metropole Medellín ein Schutzprogramm für Kindersoldaten initiiert. Um die gesellschaftliche Inte-gration zu erreichen, arbeiten die Don Bosco Mitarbeiter eng mit den Familien der Betroffenen zusammen. Bisher erhielten 2.300 Jugendliche Hilfe, rund 85 Prozent von ihnen fanden den Weg in ein neues Leben.
Zurück ins Leben
Catalina und Manuel gehören dazu. Sie blicken zuversichtlich in die Zukunft und wollen andere vor ihrem Schicksal bewahren. Deshalb sind sie auch Protagonisten des Films „Alto el fuego“ (Waffenstillstand) geworden, in dem sie über ihre Vergangenheit als Kindersoldaten berichten. Denn sie haben viele Kinder und Jugendliche sterben sehen – zu viele. Ihren Film haben sie Anfang des Jahres in Europa vorgestellt: in Brüssel, Madrid, Rom, Zürich und Bonn. Catalina und Manuel sind dankbar, dass sie ihrem Leben eine Wende geben konnten. Ihr größter Wunsch ist es, dass der Frieden in Kolumbien anhält und sie später eine Arbeit finden und eine Familie gründen können.
Manuel geht jetzt in eine Schule und bildet sich im Bereich Metallverarbeitung weiter. Bis er 14 Jahre alt war, konnte er weder lesen noch schreiben. In der Don Bosco Schule macht er bald einen Abschluss. Er ist glücklich und möchte die Schrecken der Vergangenheit hinter sich lassen. Dank Don Bosco hat er wieder ins Leben zurückgefunden. Catalina hat wieder Kontakt zu ihrer Mutter. Das macht sie überglücklich. Vor der Zukunft hat sie keine Angst mehr. „Ich möchte Krankenschwester werden“, erzählt sie bei der Vorstellung des Films in Bonn. „Das habe ich meiner Mutter versprochen.“
* Namen geändert
Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern in Kolumbien bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.
Ciudad Don Bosco
Die Ciudad Don Bosco in der kolumbianischen Stadt Medellín ist eine Einrichtung der Salesianer Don Boscos für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Jungen und Mädchen können in der „Stadt“ Don Bosco lernen, Sport treiben, an Workshops und Freizeitaktivitäten teilnehmen oder auch eine Berufsausbildung absolvieren. In der 1965 gegründeten Einrichtung werden aktuell Tausende Kinder und Jugendliche betreut.