Glückliche Rettung
Hilfe für vermisste Kinder in Indien
Insgesamt 26 Tage wurde der neunjährige Irfan vermisst. Dann fanden ihn seine verzweifelten Eltern wieder – dank der Polizei und Don Bosco. Der Junge war verschleppt worden. Irfan und seine Eltern sind glücklich, nun endlich wieder vereint zu sein.
veröffentlicht am 29.08.2023
Irfan* liebt es, den ganzen Tag mit seinem Kreisel zu spielen. An dem Tag im November, als er verschwand, spielte er draußen vor der Hütte der Familie. Die Familie lebt in einem Slum in der süd-indischen Metropole Bangalore. Irfans Vater ist Fahrer bei der Müllabfuhr, seine Mutter putzt in einer modernen Wohnanlage in der Nähe des Slums. Wenn die Eltern tagsüber arbeiten, müssen sie Irfan alleine lassen. Bis mittags ist der Neunjährige gewöhnlich in der Schule. Doch während der Corona-Pandemie waren alle Schulen geschlossen.
Irfan ist in sein Spiel mit dem Kreisel vertieft, als mittags eine Autorikscha in den Slum kommt. Helfer verteilen ein traditionelles Reisgericht an die Bewohner. Irfan freut sich über das Angebot und setzt sich zum Essen in das kleine Fahrzeug. Was dann genau geschah, ist bis heute nicht geklärt. Irfan wurde verschleppt. Der Neunjährige spricht nicht über diese Zeit. Auch für die Polizei gibt es noch viele Ungereimtheiten.
Verzweifelte Suche
Die Eltern suchten verzweifelt überall nach ihrem Jungen. In der Siedlung und Umgebung war er nirgends zu finden. Schließlich befürchteten sie, dass ihr Sohn verunglückt sei. Spät am Abend erstatteten sie eine Vermisstenanzeige bei der Polizei von Bangalore. Doch über den Verbleib des kleinen Irfan gab es dort keinerlei Informationen. Irfans Vater ging in das Don Bosco Schutzhaus für Straßenkinder und Jungen in Not. Er hatte die Hoffnung, seinen Sohn vielleicht dort zu finden. In dem staatlich anerkannten Wohnheim werden Kinder und Jugendliche ohne Familie betreut. Sie finden dort solange ein Zuhause, bis ihre Familien wiedergefunden werden oder sie in anderen Hilfseinrichtungen dauerhaft untergebracht werden können. Irfans Vater füllte auch bei Don Bosco eine Vermisstenanzeige aus.
Dass Kinder verschwinden, ist in Indien keine Seltenheit: Etwa 100.000 Minderjährige werden dort jedes Jahr als vermisst gemeldet. Die Salesianer Don Boscos haben sich deshalb landesweit vernetzt, um vermisste Kinder leichter zu finden: Im Jahr 2002 wurden das „Don Bosco National Forum for the Young at Risk“ (DB YaRForum) in Delhi gegründet und die Datenbank Homelink entwickelt. Jedes Kind, das in einer indischen Don Bosco Einrichtung aufgenommen wird, ist dort registriert: Alter, Geschlecht, Sprache werden festgehalten sowie alle Beratungs- und Hilfsangebote. Rund 250.000 Kinder und Jugendliche sind aktuell in der Datenbank erfasst. Don Bosco Teams im ganzen Land können auf die Daten zugreifen und Vermisstenanzeigen mit dem Profil geretteter Kinder abgleichen.
Angaben werden mit der Datenbank abgeglichen
Das taten auch die Mitarbeitenden des Don Bosco Schutzhauses in Bangalore. Doch die Angaben von Irfans Vater stimmten mit keinem Kind aus der Datenbank überein. Die Verzweiflung der Eltern war groß. Einige Tage zuvor wurde ein circa siebenjähriger Junge von Don Bosco Mitarbeitenden am Busbahnhof aufgefunden. Die Helfer kümmerten sich um ihn. Schließlich wurde der Junge in das Don Bosco Schutzhaus gebracht. Dort versuchten Psychologen herauszufinden, wie er heißt und wo er herkommt. „Wenn ein gerettetes Kind hierher kommt, ist es meine Aufgabe, Vertrauen zu schaffen und eine Beziehung aufzubauen. Ich kläre die Kinder über ihre Rechte auf und sage ihnen, was wir tun, um ihnen zu helfen. Dann stelle ich Fragen zum Reiseverlauf, versuche, den Namen herauszufinden und an Informationen zur Familie und seinem Zuhause zu kommen“, erklärt Cliona D’Costa, psychologische Beraterin im Schutzhaus.
Irfan nannte zunächst einen falschen Namen, was die Suche nach seinen Eltern erschwerte. Nach 26 Tagen gelang es aber schließlich, die Familie wieder zu vereinen. Damit hatten Irfan und seine Eltern großes Glück, denn oft dauert es Jahre, bis Kinder und Eltern wieder zusammenfinden. „Je länger die Trennung dauert, umso gravierender sind die psychischen Folgen. Viele Kinder sind so traumatisiert, dass sie nicht über das Erlebte sprechen können“, sagt Maheshwari Balan, Senior Manager vom indischen Don Bosco Netzwerk.
Gründe für das Verschwinden sind vielfältig
2022 hat das DB YaRForum ein Pilotprojekt gestartet, um die Datenbank Homelink noch effizienter zu machen. Biometrische Fingerabdrücke und Gesichtserkennung sollen die Identifizierung erleichtern und eine schnellere Zusammenführung mit der Familie herbeiführen.
Viele vermisste Kinder kommen an den Zentralbahnhöfen und Busbahnhöfen der indischen Metropolen an. Die Don Bosco Sozialarbeiter suchen diese Plätze täglich auf und arbeiten eng mit der Polizei zusammen. Danach gelangt das Kind in Absprache mit dem Jugendamt in eine Don Bosco Einrichtung. Die Gründe für das Verschwinden der Kinder sind vielfältig: Manche werden von Menschenhändlern verschleppt, um sie für Prostitution oder Zwangsarbeit auszubeuten oder ihnen Organe für illegalen Organhandel zu entnehmen. Andere laufen von zu Hause weg – weil sie Opfer häuslicher Gewalt wurden oder sich ein besseres Leben in der Stadt erhoffen. Wieder andere werden von den Eltern bewusst verlassen oder verkauft, gehen nach Katastrophen oder in großen Menschenansammlungen verloren.
In die Schule gehen und Fahrrad fahren
Wenn die Eltern gefunden sind, beginnt der Prozess der Zusammenführung. Bevor die Kinder in die Familien zurückgebracht werden, überprüfen Don Bosco Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die familiäre Situation. Falls eine Rückführung in die Familie das Wohl des Kindes gefährden könnte, wird ein dauerhafter Platz in einer Kinder- und Jugendeinrichtung gesucht. Ziel ist es, dass die Jungen und Mädchen zur Schule gehen und eine Berufsausbildung machen können.
Irfan ist glücklich, wieder bei seiner Familie zu sein. Jetzt kann er auch wieder die Schule besuchen. In seiner Freizeit spielt er immer noch am liebsten mit seinem Kreisel. Und er fährt gerne auf dem Fahrrad seiner Mutter herum. Weit weg fährt er aber nicht. Denn er möchte kein Risiko eingehen, seine Familie wieder zu verlieren.
*Name geändert
Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern in Indien bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.
Don Bosco Netzwerk für vermisste Kinder
Mit dem Don Bosco National Forum for the Young at Risk (DB YaRForum), dem mehr als 100 Don Bosco Organisationen in ganz Indien angehören, und der Datenbank Homelink helfen die Salesianer Don Boscos, vermisste Kinder wieder mit ihren Familien zusammenzubringen. „Vom ersten Tag der Rettung eines Kindes bis zu dem Tag, an dem es unsere Einrichtung verlässt, wird jedes Detail und jede Aktivität mithilfe des Homelink-Dokumentationstools aufgezeichnet. Auch nach der Rückführung in die Familien besuchen wir die Kinder. Wir wollen sichergehen, dass sie glücklich und gut versorgt sind. Erst dann wird die Akte geschlossen“, sagt Pater Joseph Leo Irudayasamy, Direktor des Projektbüros Chennai und Leiter des Homelink Network.