Hilfe für Frauen
Ostkongo: Ein neues Leben ohne Gewalt
Der Ostkongo ist einer der weltweit gefährlichsten Orte für Frauen. Im Maison Marguerite der Salesianer Don Boscos bekommen sie Hilfe und die Chance auf eine Ausbildung.
veröffentlicht am 31.08.2017
Wenn abends Wind aufkommt, stellt sich Gentille gerne unter die Jacaranda, die im Garten wächst, und lässt die taumelnden Blüten auf sich regnen, bis sie in ihrem Haar liegen wie ein Schleier. Wie dieser Brautschleier, den die Frau auf dem Werbeplakat trägt, an dem Gentille auf ihrem Weg in die Kirche vorbeikommt. Der Slogan einer Versicherung dazu lautet: Für eine sorglose Zukunft.
Gentille, 17 Jahre alt, kennt niemanden, dessen Zukunft sorglos ist. Nicht dort, wo Gentille wohnt, im Maison Marguerite, einer Einrichtung der Don Bosco Mission in der ostkongolesischen Stadt Goma – ein Heim auf Zeit für junge, traumatisierte, missbrauchte, verstoßene Mädchen. Und auch nicht dort, wo Gentille aufwuchs – in Beni, einer Kleinstadt im Osten des Kongos, am Fuße der Virunga Berge. Eine Stadt, die es zu trauriger Berühmtheit brachte, weil sie Fadenkreuz konkurrierender Rebellengruppen ist.
Als Gentille 14 Jahre alt war, gingen ihre Eltern fort. Beide waren Soldaten und wollten das Vaterland verteidigen. Die Kinder blieben bei Verwandten. An einem Tag im Juni, Gentille war gerade 15 Jahre alt geworden, kamen Rebellen einer ugandischen Miliz in das Viertel und richteten ein Massaker an. „Fast alle Nachbarn waren tot“, sagt Gentille. „Die Überlebenden, junge Mädchen und Männer, wurden von den Rebellen mitgenommen.“ Auch sie.
„Sie haben mich mitgenommen.“ Viele Mädchen, die im Kongo Ähnliches erlebten wie Gentille, drücken ihre Entführung durch Milizen so aus. Sie sagen auch: „Ich musste die Frau eines dieser Männer sein.“ Es ist ein Satz, der ihnen die Würde lässt, aber wenig erzählt über die Schrecken dieses „Frauseins“. Gentille wurde zwei Monate lang vergewaltigt. Dann gelang ihr mit zehn anderen Mädchen die Flucht. Die Rebellen jagten die Fliehenden, erschossen sieben, drei überlebten. Gentilles beste Freundin nicht.
Ausgenutzt und missbraucht
In einem Camp der Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen fand Gentille Unterschlupf und dort entdeckte sie, dass sie schwanger war. „Ich wollte mich umbringen“, sagt sie schlicht. Tausende, vielleicht Zehntausende solcher jungen Mädchen wie Gentille gibt es im Osten des Kongos. Misshandelte, sexuell missbrauchte junge Mädchen, viele noch Kinder, die manchmal Monate, manchmal Jahre in den Quartieren der Rebellen kochten, Lasten trugen und Wasser holten. Oder in den Minen Sand siebten und wuschen, um die seltenen Erden zu gewinnen, die der Reichtum des Kongos sein könnten, aber sein Fluch sind. Erze und Mineralien, die die Digitalindustrie des Westens für Computer, Handys und digitale Kameras braucht.
Ein UN-Soldat brachte Gentille ins Maison Marguerite. Sie hat dort ihren Sohn geboren und ihm den Namen Moses gegeben – als Erinnerung daran, dass sie das Kind am liebsten ausgesetzt hätte und es dann doch behielt. Wer Gentille mit Moses sieht, begreift, dass ihre Beziehung keine Mutter-Kind-Liebesgeschichte wurde. „Ich wasche ihn, ich füttere ihn, ich trage ihn“, sagt sie freudlos, wenn man sie fragt, was sie für das Kind empfindet.
Mit Gentille wohnen 22 andere Mädchen im Maison Marguerite, das jüngste ist zwölf Jahre, das älteste 17 Jahre alt. Alle Mädchen sind Opfer sexueller Gewalt. Sie wurden von ihren Familien verstoßen oder haben keine Familie mehr. Viele lebten auf der Straße, bis die Polizei sie auflas und in das Heim brachte, andere machten sich selbst auf den Weg. Im Maison Marguerite erfahren sie zum ersten Mal wieder Heimat und Sicherheit. Hier gibt es bunte kleine Holzhäuser, in denen sie wohnen können, und jeden Tag Essen, Fürsorge, die tröstliche Gemeinschaft der anderen. Vor allem aber: Schulunterricht. Erst Alphabetisierung, dann im Schnelldurchlauf eine Ausbildung zur Köchin, zur Friseurin oder Schneiderin.
Morgens ab 8 Uhr ist das Maison Marguerite ein Hühnerstall, so wie es jede Schule auf der Welt wäre, in der 59 Mädchen zusammenkommen. Im ersten Stock des Gebäudes sind die künftigen Friseurinnen versammelt. Da werden Zöpfchen geflochten, Wimpern getuscht und Nägel lackiert. Im Nebenraum riecht es nach Stoff und dem Öl, mit dem die Singer-Maschinen geschmiert werden, an denen die Schneiderinnen lernen. Sie rattern in schnellem Tempo. Auch Gentille näht hier, sie entwirft inzwischen ihre eigenen Modelle. Der Ausbildungskurs zur Köchin trifft sich unter einem Grasdach im Hof neben dem Gebäude. Auf einer Tafel steht das Gericht des Tages: Putenschnitzel mit Maccaroni. Langsam und ungelenk schreiben die Mädchen das Rezept von der Tafel ab, später werden sie es nachkochen.
Ein langer Weg zu einem stabilen Leben
Geleitet wird das Maison Marguerite von einigen Nonnen und dem Direktor Edgar Katembo. Seit das Haus im Jahr 2009 eröffnete, habe es die schlimmsten Schicksale beherbergt, sagt er. „Wir hatten hier auch schon 10-Jährige, die so grausam vergewaltigt wurden, dass ihre inneren Organe vollkommen zerstört waren. Die Mädchen haben viele psychische und physische Probleme.“ Viele der Mädchen, erzählt Katembo, hätten zudem Fisteln, Risse im Darm oder der Blase von den Vergewaltigungen. „Sie sind inkontinent und brauchen Operationen. In so einem Zustand ist die Chance, dass sie je einen Mann finden, gleich Null, außerdem können sie nicht in die Öffentlichkeit wegen ihres Geruchs.“ Wenn man auf all diese Lasten noch die Schwere eines Kindes drauflege, das nicht aus Liebe, sondern durch Gewalt entstand, und die Tatsache, dass die Mädchen kein Geld hätten, dann könne man sich vorstellen, wie lang der Weg zu einem stabilen Leben sei, sagt der Direktor.
Zur medizinischen Behandlung der Mädchen arbeitet das Maison Marguerite mit zwei Kliniken zusammen, in denen inzwischen an die 90.000 Frauen operiert wurden, die an Blasen-Scheiden- oder Rektum-Scheiden-Fisteln litten. Auch Gentille konnte so von ihrer Inkontinenz befreit werden. Das macht sie in den Augen der kongolesischen Gesellschaft wieder zu einer vollwertigen Frau, die man verheiraten kann. Für Gentille, die sich und ihr Kind noch durchbringen muss, bedeutet das immerhin die Möglichkeit, einen Ernährer zu finden.
Gentille ist nun seit elf Monaten im Maison Marguerite. Noch vier Wochen, dann steht sie auf eigenen Beinen. Ja, sagt sie, sie habe Angst davor. Vor einem Leben alleine, vor Männern, aber auch davor, wie es sein wird, jeden Tag allein mit Moses zu sein. Im Maison Marguerite wurde ihr der Junge abgenommen. Wenn sie Unterricht hatte, konnte sie für ein paar Stunden wieder sie selbst sein. Mit einem Mikrokredit will Gentille ihre eigene kleine Schneiderwerkstatt in Goma eröffnen. Und sie wird versuchen, ihre Mutter zu finden. Ihr Vater, so hat sie über andere gehört, sei erschossen worden, aber ihre Mutter, die habe jemand in einer Kaserne in Lumbumbashi gesehen. „Wenn ich Geld verdient habe, dann kaufe ich mir ein Busticket dahin. Und wenn
ich sie finde, dann werden wir wieder zusammenleben.“
Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern im Kongo bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.
Die Salesianer Don Boscos im Ostkongo
Seit 1997 engagieren sich die Salesianer Don Boscos in Goma im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Goma ist die Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu – eine Region, die durch kriegerische Konflikte und Naturkatastrophen gezeichnet ist. Zu den Opfern zählen vor allem Frauen und Kinder. Viele Frauen wurden vergewaltigt und systematisch misshandelt. Als Zufluchtsort für junge Mütter und ihre Kinder haben die Salesianer Don Boscos 2009 das Maison Marguerite gegründet.