Spielen und lernen
Wenn Kinder nicht verlieren können
Die Fünfjährige ist beim Brettspiel Letzte geworden und fegt wütend die Figuren vom Tisch. Was tun? Beim Spielen zu unterliegen, fällt vielen Kindern schwer. Was das Verlieren bei ihnen auslösen, und wie Eltern darauf reagieren können.
veröffentlicht am 01.07.2019
"Ich habe eine Zwei gewürfelt“, jubelt Leon und schiebt seine letzte Spielfigur ins Haus des Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiels. Damit hat der Siebenjährige gewonnen – und seine Schwester Emma nicht. „Das ist gemein!“, ruft sie. Wütend schubst die fünf Jahre alte Emma das Spielbrett beiseite, sodass die Figuren auf dem Tisch herumkullern. „Das ist doch nur ein Spiel“, versucht ihre Mutter, sie zu beruhigen. „Ärgere dich doch nicht so, du gewinnst ein anderes Mal wieder.“ Aber Emma hat die Arme verschränkt und stampft mit dem Fuß auf.
Gefühle angemessen ausdrücken lernen
Für ein Kind im Kindergartenalter eine normale Reaktion, findet Prof. Dr. Helga Schneider. „Es fordert eine Menge von Kindern, ein guter Verlierer zu sein, der anerkennt, dass er nicht Erster geworden ist, und der nach einem verlorenen Spiel nicht aufbraust“, erklärt die Leiterin des Studiengangs für Erziehung im Kindesalter und Kindheitspädagogik an der Katholischen Stiftungshochschule München. „Es ist mit einem bestimmten Entwicklungsstand verbunden, dass Kinder ihre Gefühle sozial angemessen ausdrücken können, wenn sie ein Spiel verlieren. Das entwickelt sich erst am Ende des Kindergartenalters mit etwa fünf oder sechs Jahren.“
In dieser Phase erkennen Kinder auch, dass sie manches sehr gut beherrschen, anderes aber weniger gut. Leon kann beispielsweise sehr schnell laufen, aber noch nicht so lange einen Ball auf dem Fuß balancieren wie sein Freund. „Das muss ich noch üben“, sagt er selbst. Wenn er beim Ballbalancieren gegen seinen Freund verliert, ist das für ihn in Ordnung. Denn bei einem Wettrennen würde Leon gewinnen.
Jüngere Kinder haben dagegen oft das Gefühl, als Person schlecht zu sein, wenn sie verloren haben. Bei Würfelspielen müssen sie außerdem verstehen können, dass es Zufall ist, welche Zahl sie würfeln. „Kinder sind beim Verlieren manchmal emotional überfordert. Sie brauchen dann Hilfe dabei, ihre Gefühle zu benennen“, sagt Helga Schneider. Sie rät, das Kind auf seine Gefühle anzusprechen und es ernst zu nehmen. Wenn die Mutter Emma zu sich nimmt und erklärt: „Ich sehe, du bist gerade wütend, Emma. Heute hat Leon gewonnen, ich war Zweiter und du warst Letzte. Ich verstehe, dass du enttäuscht bist“, fällt der Wutausbruch möglicherweise schwächer aus. Eine Perspektive auf einen neuen Anfang kann ebenfalls helfen, die Gemüter zu beruhigen. „Wir spielen morgen wieder, wenn du magst. Lassen wir uns einfach überraschen, wie es dann ausgeht.“
Welche Spielkultur herrscht in der Familie?
Wie ein Kind auf ein verlorenes Spiel reagiert, hängt neben Stimmung und Charakter auch davon ab, wie mit Spielen in der Familie umgegangen wird. Manche Familien legen Wert auf die gemeinsame Zeit, die sie beim Spielen miteinander verbringen. Wer gewinnt und wer welchen Rangplatz einnimmt, ist dabei Nebensache. „Hier kann es sein, dass ein Kind auch als Dritter oder Letzter zu einem Mitspieler sagt: ‚Das war toll, wie du das gemacht hast.‘“, sagt Helga Schneider. In anderen Familien stehe stattdessen der Wettlauf um Platz eins im Vordergrund. „In einer Spielkultur, in der der Wettbewerb betont wird, kann es sein, dass ein Kind stärker damit hadert, wenn es verliert. Dann kann es zum klassischen Wutausbruch kommen“, erklärt Helga Schneider weiter. „Kinder lernen so in ihrer Familie, unterschiedlichen Spielformen eine Bedeutung zu geben. Dabei lernen sie auch, in einer bestimmten Art und Weise ihre Gefühle auszudrücken, die zur Familienkultur passt.“
Spielen ist dabei immer eine freiwillige Sache. „Eltern sollten jüngere Kinder nicht gezielt zu Wettbewerbsspielen auffordern“, rät Helga Schneider. „Wünscht sich das Kind aber, Mensch-ärgere-dich-nicht, Dame oder Mühle zu spielen, kann man darauf eingehen. Oder wenn es sagt: ‚Papa, sag du, was wir spielen‘, kann man ein Wettbewerbsspiel vorschlagen und schauen, wie das Kind reagiert.“
Gemeinschaft statt Wettbewerb
Wird ein Kind immer wieder wütend, wenn es bei Wettbewerbsspielen verliert, ist es vielleicht auch noch nicht bereit für diese Art von Spielen. Stattdessen kann man auf Kooperations- und Rollenspiele umsteigen. So bleibt das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel erst einmal im Schrank, und Emma und Leon bauen gemeinsam mit ihren Eltern im Wohnzimmer eine Fantasiestadt aus Bausteinen. Zusammen überlegen sie, wer dort wohnt. Ein anderes Mal entstehen Hochhäuser aus alten Pappschachteln und Kartons, oder alle tauschen beim Vater-Mutter-Kind-Spiel die Rollen. Emma darf dann die Mama sein, und Emmas Freundin die Oma, die zu Besuch kommt. „Kinder brauchen in frühen Lebensjahren Mitspieler, die ihnen helfen, durch das gemeinsame Spiel die Welt zu verstehen“, sagt Helga Schneider. „Indem man miteinander baut und zusammen entdeckt, macht man die Erfahrung, dass man miteinander mehr wissen kann als alleine. So erleben Kinder Gemeinschaft und spüren, dass sie zu einer Gruppe dazugehören. Das Spielthema ist etwas, das verbindet.“
Sind die Kinder schließlich bereit, sich mit anderen zu messen, zeigen sie das auch. Dann wird auf dem Spielplatz ausprobiert, wer am höchsten schaukeln kann, wer es am längsten aushält, kopfüber von der Turnstange zu hängen, und beim Waldspaziergang wird getestet, wer den dickeren Ast tragen kann. „Kinder haben Interesse daran, ihre Fähigkeiten zu testen und sie zu bestätigen oder ihre Annahme, dass sie etwas gut oder weniger gut können, zu korrigieren“, erklärt Helga Schneider. „Man sollte Kindern die Möglichkeit geben, diesen Maßstab zu überprüfen. Das geht nur, indem man spielt.“
Zu Hause kann man dann auch wieder die Spielesammlung mit Mühle, Mikado und Mensch-ärgere-dich-nicht auspacken. Sind die Kinder dabei zu zappelig und rutschen auf dem Stuhl hin und her, haben sie sich im Laufe des Tages nicht genug bewegt. Dann verlegt man das Spielen zum Austoben besser in den Garten, in den Park oder auf den Spielplatz. Am Klettergerüst klettert Emma jetzt auch schon einmal mit ihrem Bruder um die Wette – und kommt als Erste oben an.
Auf einen Blick – die fünf wichtigsten Tipps zum Spielen in der Familie:
1. Fordern Sie Kinder nicht zu Wettbewerbsspielen auf. Sie sollten freiwillig mitspielen. Sind die Kinder bereit, suchen sie von sich aus den Vergleich mit anderen.
2. Überlegen Sie, wie die Spielkultur in Ihrer Familie aussieht: Was ist Ihnen am Spielen wichtig?
3. Ist ein Kind nach einem verlorenen Spiel wütend, helfen Sie ihm, seine Gefühle auszudrücken, indem Sie das Kind darauf ansprechen und es ernst nehmen. Erklären Sie auch, was so schwierig an dem Spiel ist, und dass beim nächsten Mal auch ein anderer Spieler gewinnen kann.
4. Spielen Sie gemeinsam Kooperations- und Rollenspiele wie Vater-Mutter-Kind. Oder erfinden Sie zusammen eine eigene Welt und bauen Sie gemeinsam etwas aus Bausteinen, Kartons oder mit Teilen einer Spielzeug-eisenbahn.
5. Damit Kinder stillsitzen und sich auf ein Brettspiel konzentrieren können, brauchen sie vor dem Spiel Bewegung. Wettbewerbsspiele lassen sich auch gut mit einem Spaziergang oder einem Besuch auf dem Spielplatz verbinden: Wer kann am schnellsten rennen? Wer kann den dicksten Ast tragen? Wer schaukelt am höchsten?