Nachhaltigkeit

Einfach leben als Familie

Ausmisten, reduzieren, entrümpeln – nicht nur die Wohnung, sondern auch Gewohnheiten. Lina Jachmann widmet sich seit vielen Jahren dem „einfachen Leben“ und erklärt, wie nachhaltige Lebensweise auch in der Familie funktionieren kann.

veröffentlicht am 14.02.2022

Wo mehrere Menschen unter einem Dach leben, verteilt sich der Kram wie von Zauberhand über die Räume. Gerade hatte man noch klar Schiff gemacht und schon liegt wieder alles voll. Vor 100 Jahren besaß jede Familie etwa 100 Dinge, heute sind es 10.000. Die Werbung singt mit jedem Produkt das Lied vom besseren Leben. Zugleich löst das ewige Gerümpel bei vielen Menschen ein Gefühl der Überforderung aus. 15 Paar Schuhe im Flur verstellen den Blick auf das Wesentliche. Und der überquellende Gelbe Sack macht ein schlechtes Gewissen. Viele sehnen sich nach weniger.

Lina Jachmann ging es vor sechs Jahren genauso. Die Berliner Werbetexterin, Kreativdirektorin und Autorin suchte mehr Fokus und Klarheit in ihrem Leben. „Ich habe deutlich gemerkt, wie sich dieses Zuviel negativ auf mein Inneres übertragen hat, und habe mich danach gesehnt, wenige ausgewählte Dinge um mich zu haben.“ Ein Gefühl, das sie schon aus ihrer Kindheit kennt. „Wenn ich zu viele Spielsachen in meinem Zimmer hatte, wollte ich auf einmal mit gar nichts mehr spielen.“

Vier Stühle, vier Teller, vier Becher – und es hat nichts gefehlt

Besonders wohl fühlte sich die heute 39-Jährige, wenn sie mit ihrer Familie Urlaub in Dänemark machte. „Wir haben uns ein Häuschen in den Dünen gemietet, und ich war damals schon fasziniert von der Einfachheit. Von allem gab es genau die richtige Anzahl: vier Stühle, vier Teller, vier Becher. Und es hat an gar nichts gemangelt.“ Noch heute liebt Lina Jachmann diese Schlichtheit, den Verzicht auf Überflüssiges, weil das Raum für anderes schafft. „Mit Minimalismus kann man sich das Ferienhausgefühl auch in den eigenen Alltag holen“, ist ihre Erfahrung.

2015 macht sie sich auf die Suche nach einem neuen Lebensgefühl. In der Buchhandlung stellt sie fest, dass das überschaubare Angebot an Ratgebern sie nicht wirklich überzeugt. „Meist ging es um das reine Entrümpeln. Diese Wegwerfmentalität war mir nicht nachhaltig genug und ich suchte eine ganzheitlichere Herangehensweise. Ich wollte nicht nur ausmisten, sondern umdenken.“ Und so beginnt Lina Jachmann, selbst zu recherchieren und Menschen zu treffen, die sich für einen minimalistischen Lebensstil entschieden haben.

In Zusammenarbeit mit der Fotografin Marlen Mueller entsteht der Minimalismusguide „Einfach leben“ – mit Homestorys, Interviews und Bildreportagen. Allen Geschichten gemeinsam ist der nachhaltige Ansatz. Ausgemustertes landet nicht mehr im Müll, sondern wird, wo möglich, in den Kreislauf zurückgegeben – also verkauft, verschenkt, getauscht, gespendet oder per Upcycling zu etwas Neuem, Brauchbarem veredelt. Ziel ist, sich mit gutem Gewissen von Dingen zu trennen und sich bewusst mit dem Wenigen zu umgeben, was man wirklich mag.

„Familien müssen gemeinsam schauen, welcher Weg zu ihnen passt"

„Auf diese Art sein Leben zu erleichtern, tut auch Kindern gut“, ist Lina Jachmanns Erfahrung. „Schon die Kleinsten geben gerne ausgediente Spielsachen oder Klamotten weiter, wenn sie wissen, dass sich ein anderes Kind darüber freut.“ Dinge, an denen das Herz hängt, dürfen bleiben. „Am besten, man nimmt jeden Gegenstand in die Hand und spürt in sich hinein. Dann merkt man schnell, was gehen kann.“ Im Familienhaushalt gibt es da so einiges. Wo aber fängt man an?

„Dort, wo es am dringendsten nötig ist“, lacht Lina Jachmann und ist sich bewusst, dass die Meinungen darüber in der Familie auseinandergehen können. Dann hat es Sinn, jedem Familienmitglied einen eigenen Bereich zum Ausmisten zu geben. Die einen sortieren jeden Tag etwas aus. Andere setzen sich eine Deadline. Etwas drastischer ist die fiktive Umzugsparty. Alle Gegenstände eines Haushaltsbereiches kommen in Kartons. In der folgenden Zeit sucht man das heraus, was man gerade braucht. Nach einer Weile wird der Karton weggegeben, ohne ihn noch mal durchzusehen.

Wer so etwas im Kinderzimmer versucht, wird wahrscheinlich schnell an seine Grenzen stoßen. „Familien müssen gemeinsam schauen, welcher Weg zu ihnen passt, damit es allen Beteiligten Freude bereitet“, sagt Lina Jachmann. „Dinge loszulassen, macht Spaß, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Besitz kann aber auch anstrengend sein.“ Gerade am Anfang fällt es schwer, zu entscheiden, was man wirklich braucht und was nicht. „Aber es wird mit jedem Tag leichter“, ermutigt Lina Jachmann.

Ausmisten auch bei unserer Ernährung, unserer Sprache, unserer Denkweise

Je mehr Regal- und Bodenfläche wieder zum Vorschein kommt, desto eher verinnerlicht sich die minimalistische Lebensart. „Da entsteht ganz automatisch eine neue Haltung“, sagt Lina Jachmann, die sicher ist: „Das Entrümpeln funktioniert in allen Bereichen. Beim übervollen Kleiderschrank ebenso wie bei unserer Ernährung, unserer Sprache und unserer Denkweise.“ Auch hier könne man ausmisten und sich nach und nach von belastenden Glaubenssätzen trennen, die das Leben schwer machen.   

Wie aber geht es weiter, wenn diese Phase gemeistert ist? Wer das zufriedene Gefühl nach getanem Frühjahrsputz kennt, weiß auch: Die Freude hält nicht unbedingt lange an. „Wichtig ist, allem, was bleiben darf, einen festen Platz zuzuweisen. Das macht das Aufräumen viel leichter“, sagt Lina Jachmann. Sie selbst stellt sich täglich einen Timer und wirbelt 25 Minuten zu guter Musik durch die Wohnung, um alle Lieblingsdinge wieder in ihr Zuhause zu bringen. „So kann man das gemeinsame Aufräumen auch mit Kindern zu einem täglichen spielerischen Ritual machen.“

Ein zweiter Tipp der Minimalismus-Expertin lautet: Hüte deine Tür! Es ist erstaunlich, auf wie vielen Kanälen ständig neue Dinge ins Haus flattern. Bunt bekritzeltes Druckerpapier aus dem Kindergarten, eine Briefkastenladung voll Rechnungen und Reklame, Plastikkram von diversen Kindergeburtstagen, Wollreste, Filzstücke und eine Strickliesel von Omas Dachboden. Ayurvedische Kochbücher, die eine Freundin vorbeibringt. Außerdem zwei Luftpumpen – weil die erste verschollen war und prompt wieder auftauchte, nachdem man die neue angeschafft hatte.

„Jeder Einkaufszettel ist auch ein Stimmzettel“

Dazu jede Menge Klimbim, den man im Vorbeigehen kauft oder im Internet bestellt und der sich als fehlerhaft, unpraktisch oder völlig sinnfrei erweist. Den man deshalb eigentlich zurückschicken müsste, aber die Zeit nicht findet. Mit Nachhaltigkeit hat das nichts zu tun. Deshalb ist es wichtig, das eigene Kaufverhalten auf den Prüfstand zu stellen. Die erste Tat ist schnell vollbracht. „Kleben Sie ein Schild an den Briefkasten, dass Sie keine Werbung wollen. Und misten Sie auch Ihren virtuellen Posteingang aus. Newsletter kann man einfach abbestellen“, rät Lina Jachmann.

Beim Shoppen sollte man sich bei jedem Teil fragen, warum will ich es haben. „Ist es ein Belohnungskauf, weil es gerade so stressig ist und ich gelernt habe, mir in solchen Situationen etwas zu gönnen? Ist es etwas, dass ich wirklich besitzen muss, oder kann ich es ausleihen, tauschen oder sogar selber herstellen?“ Möchte ich tatsächlich etwas kaufen, dann am besten secondhand oder beim lokalen Einzelhändler statt im Onlineshop. Bei der Entscheidung für ein Produkt sollten Herstellungsprozesse und Inhaltsstoffe eine große Rolle spielen.

„Wir haben als Kunden oft das Gefühl, die Märkte nicht beeinflussen zu können“, sagt Lina Jachmann. „Aber das ist nicht so: Jeder Einkaufszettel ist auch ein Stimmzettel. Es ist von Bedeutung, für welche Produkte wir uns entscheiden.“ Aber ist regional, ökologisch, nachhaltig und fair nicht immer auch teurer? Lina Jachmann hört diesen Einwand öfter, kennt aber viele Menschen, die gerade aus Geldnot heraus nachhaltig und minimalistisch leben. „Wer bewusst einkauft, kauft auch weniger und kann so wieder Geld einsparen“, weiß sie auch aus eigener Erfahrung.

Ehrlich mit dem Umfeld kommunizieren, um die Flut der Dinge aufzuhalten

Um die Flut der Dinge aufzuhalten, die der Alltag ins Haus schwemmt, müsse man auch lernen, ehrlich mit dem Umfeld zu kommunizieren. „Ich habe allen gesagt, dass ich keine Sachgeschenke mehr haben möchte, es sei denn, ich habe einen ganz expliziten Wunsch. Stattdessen wünsche ich mir Erlebnisse und gemeinsame Zeit mit Menschen, die mir viel bedeuten. Die wichtigsten Dinge im Leben sind eben keine Dinge!“ Das ist auch etwas, das Kinder sehr gut verstehen. Und doch sind die Wunschzettel oft lang und die Augen leuchten bei neuem Spielzeug.

„Nicht verbieten, aber darüber reden“, rät Lina Jachmann Eltern, denen die vielen Plastiksachen im Kinderzimmer ein Dorn im Auge sind. Hilfreich kann zum Beispiel eine künstliche Verknappung im Spielzimmer sein. „Packen Sie gemeinsam Spielsachen in eine Kiste und stellen Sie sie erst mal weg. So erleben die Kinder, wie angenehm es sich spielen lässt, wenn nicht alles vollsteht.“ Außerdem freuen sie sich, wenn sie nach einer Weile die Kiste wieder hervorholen. „Das ist dann fast so, als hätten sie etwas Neues bekommen.“

Ein nachhaltiger minimalistischer Lebensstil kann Ruhe und Leichtigkeit in die eigenen vier Wände bringen. Vorausgesetzt, man integriert ihn so, dass er zu den Bewohnern passt. „Es geht ja nicht darum, mit maximal 100 Sachen in einer entlegenen Hütte zu leben, sondern sich mit Dingen zu umgeben, die das eigene Leben bereichern“, macht Lina Jachmann deutlich. Sie selbst besitzt zum Beispiel viele Bücher, weil sie gerne liest und keines davon missen will. „Es ist ein Akt der Selbstliebe, unser Zuhause so zu gestalten, dass wir uns dort rundum wohlfühlen.“ Und es ist ein Dienst an der Welt, nachhaltig zu konsumieren.  

Lina Jachmann

Die gebürtige Hamburgerin Lina Jachmann (39) ist Kreativdirektorin und Autorin in Berlin. Seit vielen Jahren befasst sie sich mit dem aktuellen Zeitgeist und widmet sich Themen wie Nachhaltigkeit und Minimalismus. Ihr Buch „Einfach leben“ zeigt die Bandbreite und die Vorteile minimalistischer Lebensweisen. „Einfach leben – der Praxis-Coach“ liefert dazu Impulse und Anleitungen. In ihrem dritten Buch „Magic Morning“ geht es um Rituale und Abläufe, die einen angenehmen Start in den Tag ermöglichen.


Verwandte Themen

Kind sortiert Legosteine in Kiste
Aufräumen
Beim Blick ins Kinderzimmer kommt regelmäßig der Moment, in dem wir feststellen: Schubladen und Fächer quellen über, es ist höchste Zeit, mal wieder auszumisten. So kann's nachhaltig funktionieren.
Illustration mehrere Stapel mit Geschenken
Liebe statt Konsum
Je mehr Päckchen, desto größer die Freude? Nicht unbedingt! Welche Gaben sinnvoll sind und was Eltern tun können, um die Geschenkeflut einzudämmen, erklärt Susanne Savel-Damm, Familienberaterin in der Erzdiözese Salzburg.
Illustration Junge in mit Gegenständen überfülltem Zimmer
Ordnung machen
Viele Familien haben das Gefühl, in Dingen zu versinken. Sinnvoll zu entrümpeln bringt mehr Harmonie in die Wohnung und den Alltag. Unsere Aufräumideen sind einfach umzusetzen und wirken sofort!