Kurs

Gegen Gewalt: Wie Frauen lernen, sich zu wehren

Frauen und Mädchen erfahren in allen Lebensbereichen Gewalt und sexuelle Übergriffe. Bei einem Selbstverteidigungskurs lernt unsere Autorin nicht nur Abwehr- und Befreiungstechniken. Sie entwickelt auch mehr Selbstvertrauen und ein neues Körpergefühl.

veröffentlicht am 15.04.2023

Samstagnachmittag im Magistratssportverein der Stadt Linz. Gemeinsam mit elf weiteren Teilnehmerinnen zwischen 20 bis 65 Jahren werde ich in den nächsten Stunden Handgriffe und Techniken lernen, von denen ich hoffe, sie nie im Leben anwenden zu müssen. Jede von uns wird dabei Trainingspartnerin der anderen sein. Das heißt, wir werden uns gegenseitig anschreien, an den Haaren ziehen und auf den Boden drücken. Der Kurs des Wiener Vereins „Drehungen“, der von der Volkshochschule und dem Frauenbüro Linz angeboten wird, dauert insgesamt 16 Stunden und findet an zwei Tagen statt.

Fragt man die Teilnehmerinnen nach ihren persönlichen Erfahrungen, die sie mit Belästigung oder Gewalt gemacht haben, folgt das Einmaleins der (sexualisierten) Gewalt an Frauen: Von Anpöbeln, schmierigen Anmachen über Grapschen bis hin zu Stalking und Missbrauch ist alles dabei. Nicht jede hat selbst solche Situationen erlebt, kennt aber zumindest eine Betroffene. Ulrike Tichy hört viele dieser Geschichten in ihren Fortbildungen. Sie ist Sozialpädagogin, in der Kinder- und Jugendarbeit tätig und seit mittlerweile 26 Jahren Trainerin der Selbstverteidigungstechnik „Drehungen“. Die meisten Kursteilnehmerinnen, sagt sie, haben Gewalt in ihrem Leben erfahren müssen.

Jede dritte Frau wird Opfer von Gewalt

Für ein Drittel der Frauen aus Österreich und Deutschland gehört Gewalt zum Leben dazu. Das belegen die Statistiken der zuständigen Ministerien vom November 2022. Jede dritte Frau wird demnach mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Dazu gehören Schläge, Tritte, sexuelle Belästigung, Drohungen, verbale oder physische Erniedrigungen, Nötigung, Vergewaltigung bis hin zu Mord. Am häufigsten finden Gewalterfahrungen in der eigenen Familie oder Partnerschaft statt. Der unsicherste Ort für Frauen ist somit das eigene Heim.

Trotzdem ist das Sicherheitsempfinden von Frauen im öffentlichen Raum ein ganz anderes. Auch hier gibt es eine Studie des deutschen Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2022. Etwas mehr als die Hälfte der Frauen gaben darin an, dass sie nachts nicht in öffentliche Verkehrsmittel steigen, bestimmte Straßen und Plätze meiden und fremden Personen ausweichen, weil sie sexuelle Belästigung oder Gewalt fürchten. Und das, obwohl Deutschland, schaut man auf die Kriminalstatistik, ein sicheres Land ist.

Frauen erfahren in allen Lebensbereichen sexuelle Übergriffe und Gewalt, informiert der Bund autonomer Frauenberatungsstellen Österreichs. Gerade in jenen, die wir nicht so im Blickfeld haben, wie etwa in der Schule, beim Sport, beim Arzt oder in einem Betreuungsverhältnis. Ganz vorne rangiert der Arbeitsplatz: Jede vierte Österreicherin musste im Job schon sexuelle Witze, übergriffige Bemerkungen oder unangemessene Berührungen über sich ergehen lassen.

Sich aus der Gefahr „herausdrehen“

Im Kurs lernen wir zunächst einfache Abwehrtechniken: Wir fahren unsere „Dornen“ aus, wenn sich in überfüllten Straßen- oder U-Bahnen jemand an uns drückt. Wir lernen „Flosse“, „Rüssel“ und „Adler“ kennen, unsere ersten Befreiungstechniken, die aus einfachen Hand- und Armdrehungen bestehen. Für mich sind es die ersten Selbstverteidigungstechniken meines Lebens und sie fühlen sich simpel und unspektakulär an. Im Lauf des Kurses wird uns einiges mehr an Konzentration, Koordination und Übung abverlangt. Wir befreien uns aus Würgegriffen und Umklammerungen, verteilen Schläge mit Fäusten und Füßen. Dazwischen begegnen wir immer wieder den spielend einfachen Drehungen, die uns aus unangenehmen Situationen herausholen.

„Jede Frau kann lernen, sich selbst zu verteidigen“, ist unsere Trainerin überzeugt. Im Unterschied zu Kampfsportarten spielt bei den meisten Selbstverteidigungskursen die körperliche Fitness eine untergeordnete Rolle. So auch bei der Technik „Drehungen“. Entwickelt wurde die Methode in den 1980er-Jahren von Frauen speziell für Frauen und Mädchen. Im Mittelpunkt steht nicht Muskelkraft, sondern das Potenzial des weiblichen Körpers: „Wir arbeiten nie Kraft gegen Kraft. Unser Gegenüber kann immer stärker sein. Frauen und Mädchen besitzen trotzdem ausreichend körperliche Fähigkeiten und Geschick, um Belästigungen und Gewalt abwehren zu können“, so Ulrike Tichy.

Im Verlauf des ersten Nachmittages wird für uns Teilnehmerinnen eines sehr deutlich: Selbstverteidigung beginnt schon vor dem Erlernen von Techniken. Die Übungen in den „Drehungen“-Kursen zielen darauf ab, unser Bewusstsein für den eigenen Körper und seine Fähigkeiten zu schulen. Dazu gehört auch, auf das Bauchgefühl zu hören und zu erkennen, wann es unangenehm oder brenzlig wird. Wir sprechen mit unserer Trainerin solche Situationen durch und überlegen, wie wir handeln könnten. Die langjährige Erfahrung von Tichy ist dabei nicht nur ein sachlicher, sondern auch ein emotionaler Benefit. In kurzen Rollenspielen wird das Besprochene später geübt.

Ein bestimmtes „Stopp“

Geübt wir ebenso der Einsatz unserer Stimme – und zwar mehrmals im gesamten Kursverlauf. Sie ist ein Verteidigungswerkzeug, das wir Frauen gut einsetzen können. Tichy macht es uns vor: ein lautes und überzeugendes „Stopp!“. Das irritiert nicht nur im ersten Moment, es verschafft uns auch jene Aufmerksamkeit, die der Täter nicht haben will. „Wer nicht laut ‚Stopp‘ sagen kann, sollte es zumindest mit Bestimmtheit tun“, rät Tichy. „Täter suchen ein Opfer und keinen Gegner.“

Wir spielen folgendes Szenario durch: Die Hälfte von uns – hier gehöre ich dazu – liegt mit dem Gesicht nach unten am Boden. Die anderen kommen von der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf uns zu. Die am Boden Liegenden stehen so schnell wie möglich auf, strecken einen Arm mit erhobener Handfläche nach vorne und rufen laut und bestimmt „Stopp!“. Dreimal machen wir diese Übung, mit dem Unterschied, dass der Abstand zwischen uns immer weiter verkürzt wird. Zuletzt sind es vielleicht zwei bis drei Schritte. Zu diesem Zeitpunkt schießt mir das Adrenalin ein. Zack, zack – so schnell war ich noch nie auf den Beinen. Meine Handfläche berührt fast die Nasenspitze meines Gegenübers, als ich „Stopp“ schreie. Was lerne ich? „Es ist nicht zu spät! Ich kann immer noch etwas tun!“ – ein Mantra, das uns Trainerin Tichy mehrmals im Kursverlauf mit auf den Weg gibt. Denn der Lerneffekt, den wir aus dieser und ähnlichen Übungen ziehen, ist wesentlich. Die Rolle der Frau als das „schwache Geschlecht“ hält sich hartnäckig in unseren Köpfen. Sich nicht wehren zu können, gehört zu diesem falschen Selbstbild dazu.

Vermittelt wird es uns beispielsweise in Spielfilmen, findet Tichy: „Wir sehen, wie ein Täter eine Frau von hinten angreift. Dann folgt ein Schnitt und schon ist sie tot.“ Für den Handlungsverlauf ideal, für das Frauenbild fatal. Bin ich nicht Lara Croft oder Wonder Woman, habe ich von Anfang an keine Chance? „Glaubt das nicht. Ihr könnt euch wehren. Gebt nie zu früh auf!“, schärft uns unsere Trainerin mehrmals ein.

Opfer haben Schuldgefühle

Ulrike Tichy ist eine von 40 Trainerinnen in Österreich, die die Technik „Drehungen“ unterrichten. Die Ausbildung dazu bietet der gleichnamige Verein in Wien an. Ich spreche dort mit Heidi Pichler, Vorstandsmitglied und selbst seit vielen Jahren Kursleiterin. „Die meisten Trainerinnen arbeiten hauptberuflich als Sozialarbeiterinnen, Therapeutinnen oder Pädagoginnen und sind in der Schulsozialarbeit, in der Gewaltprävention oder in Frauenberatungsstellen tätig“, erklärt sie. Pichler selbst hat Kultur- und Sozialantrophologie studiert und arbeitet in der Frauenberatung und Erwachsenenbildung.

Neben Frauen sind vor allem Mädchen im Alter zwischen sieben und 16 Jahren die Zielgruppe. Das Thema wird hier spielerisch angegangen, im Zentrum steht die Selbstbehauptung. „Wir sprechen mit den Mädchen über ihre Alltagserfahrungen“, so Pichler. „Was ist Belästigung? Wo hattet ihr Angst? War das jetzt gefährlich oder nicht? Die Mädchen spüren das Unbehagen. Im Kurs sollen sie lernen, ihre Gefühle zu benennen und rechtzeitig Grenzen zu setzen. Gerade mit den Jüngeren wird geübt, ‚Stopp!‘ zu sagen und nicht ‚Stöppchen‘.“

In den letzten 20 Jahren hat sich gezeigt, dass die Mädchen zwar aufgeklärter sind, wenn es um Gewalt, Mobbing oder sexuelle Belästigung geht. „In der Situation selbst können sie aber nach wie vor nicht damit umgehen“, so Pichler. Traurig sei vor allem, dass die Scham beziehungsweise das Schuldgefühl, wenn etwas passiert, immer noch in den Mädchen verankert ist. Und das, obwohl in den Schulen und in den Medien viel gegen diese Selbstvorwürfe getan wird. „Wir fangen mit jeder Generation wieder von vorne an“, erklärt sie. Was würde dagegen helfen? Pichler sieht hier die Männer in der Pflicht. „Solange Männer eine kollektive Schweigemauer gegenüber Gewalt an Frauen erhalten, wird es diese Benachteiligung geben.“

Sätze gegen verbale Angriffe

Eine große Lücke im komplexen Thema „Gewalt gegen Frauen“ nimmt der Verein bei Frauen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung wahr. „Hier braucht es noch viel mehr Angebote“, ist Pichler überzeugt. „Diese Frauen sind in Hinblick auf Gewalt, sexuellen Missbrauch und sexuelle Übergriffe besonders gefährdet, weil sie auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen sind. Der Verein versucht hier, gegenzulenken, und bietet zum Beispiel Kurse in Einrichtungen oder für Rollstuhlfahrerinnen an. In Wahrheit sei das aber nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein, so das Fazit.

Eine unserer letzten Übungen im Kurs nennt sich „verbaler Dreischritt“. Die Strategie besteht darin, dem Kontrahenten zu kontern, ohne ihm die Möglichkeit eines Dialogs zu bieten und zum Aufgeben zu zwingen. Drei Sätze sind dafür notwendig: 1. die Situation benennen („Sie belästigen mich“); 2. die eigenen Emotionen kundtun („Das verletzt mich“); 3. eine Handlungsanweisung geben („Hören Sie damit auf“). Wir schlüpfen abwechselnd in die Täterrolle und glänzen darin, dem Opfer das Kopftuch abnehmen zu wollen, auf das Knie zu greifen oder an die Brust zu fassen. Warum wir das so gut können? Weil es zu unserem Alltag gehört.

Der Kurs hat mich neben Ausweich-, Abwehr- und Befreiungstechniken einiges über Körperwahrnehmung und Selbstvertrauen gelehrt. Eine absolute Sicherheit gibt es im Ernstfall zwar nicht, aber die umfassende Beschäftigung mit dem Thema nimmt ihm zumindest den Schrecken und hinterlässt das Gefühl, Angriffen nicht völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Es ist ein bisschen wie beim Erste-Hilfe-Kurs: Ich fühle mich vorbereitet und weiß, dass ich notfalls die nötigen Schritte für meine Sicherheit setzen und das Adrenalin zu meinen Gunsten nutzen kann. Mit dem Kurs allein ist es allerdings nicht getan. Zu Hause heißt es üben, üben, üben. Und wie beim Erste-Hilfe-Kurs ist zu gegebener Zeit eine Auffrischung nötig.  

Der Verein drehungen

1979 haben Frauen im dramatischen Zentrum in Wien begonnen, an einem Selbstbehauptungs-, Schutz- und Verteidigungskonzept für Frauen zu arbeiten. In den folgenden Jahren hat Universitätslektorin MMagistra Hanja Dirnbacher die Methode Drehungen gemeinsam mit anderen Frauen entwickelt und an Multiplikatorinnen weitergegeben. 1994 wurde schließlich der Verein drehungen gegründet. Heute sind ausgebildete Trainerinnen in Österreich und Italien tätig. Voraussichtlich im Herbst 2023 startet der Verein wieder eine Trainerinnenausbildung. Weitere Infos und Anmeldung auf der Homepage des Vereins drehungen

Beratung und Hilfe für Mädchen und Frauen

Für Mädchen:
sprungbrett: Beratungsstelle für Mädchen* und junge Frauen (cis, trans, inter*)
die möwe: Kinderschutzorganisation mit Beratungsangeboten

Gegen sexuelle Gewalt:
selbstlaut: Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Wildwasser München: Fachstelle für Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen
 
Frauen mit Behinderung:
Ninlil: Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung
Suse hilft: Angebot des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

Frauen:
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe
Netzwerk österrreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen


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