Gesundheit

Hämmernde Schmerzen: Leben mit Migräne

In Jutta Gärtners Familie hat sich etwas vererbt, auf das alle drei Generationen gerne verzichtet hätten: schwere Migräne. Wie die 55-Jährige mit der Krankheit lebt, worunter sie besonders leidet und was ihr Hoffnung macht.

veröffentlicht am 01.07.2022

"Als ich ein kleines Mädchen war, fasste sich meine Oma manchmal an den Kopf, fing an zu zittern und legte sich auf den Boden. Sie wollte dann, dass ich ihr die Hand halte und bei ihr bleibe“, erinnert sich Jutta. Heute weiß sie, dass ihre Großmutter in diesem Moment eine Migräneattacke erlitt und Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen. Denn auch das kann eine Erscheinung dieser Krankheit sein, die alles andere ist als nur eine beliebte Ausrede für Frauen, die das Ehebett meiden wollen.

Jutta Gärtner weiß das aus eigener leidvoller Erfahrung. Ihr Migräneweg beginnt im Alter von sechs Jahren. Alle paar Wochen bekommt das Mädchen Bauchkrämpfe, hohes Fieber und Schüttelfrost. „Das klingt auf den ersten Blick nicht nach Migräne, sind aber typische Symptome der Erkrankung bei Kindern“, erklärt sie. Im Teenageralter setzt dann der schwere einseitige Kopfschmerz ein, dazu typische Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Lärmempfindlichkeit.

Die Anfälle kommen bald alle zwei Wochen

Die Anfälle kommen bald im Zweiwochentakt, zur Schule fahren im lauten Bus wird zur Qual. „Ich erinnere mich, wie oft ich nach der Ankunft rausstürzte, um eine Hecke zu finden, in die ich mich übergeben konnte“, erinnert sich die heute 55-Jährige. Der Busfahrer erlaubt ihr schließlich, bei ihm vorne am Eingang zu stehen, damit er im Zweifel schnell anhalten und ihr die Tür öffnen kann. „Ich stand da wie auf einem Präsentierteller, wurde von anderen gehänselt und ausgegrenzt.“

Jahrelang fühlt sich Jutta in der Schule unwohl. Eine psychologische Begleitung, wie die junge Frau sie dringend gebraucht hätte, gibt es in den 80ern nicht. „Damals war weder die Krankheit an sich wirklich erforscht, noch hat man darüber nachgedacht, was sie mit der Seele eines Menschen macht. Wenn man Migräne hat, geht etwas vom Leben verloren.“

Migräne gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen der Welt. In Deutschland und Österreich leiden etwa zehn Prozent der Bevölkerung darunter, aber das Verständnis für die Betroffenen hält sich in Grenzen. „Viele glauben, dass es eben nur Kopfschmerzen sind, und können nicht nachvollziehen, weshalb man deshalb eine Krankschreibung braucht“, sagt Jutta Gärtner. Dabei ist Migräne mit einer Hirnhautentzündung vergleichbar, die statt durch Bakterien durch körpereigene Prozesse ausgelöst wird.

Mehrere Auslöser

Eine Rolle spielen Botenstoffe wie Serotonin. Docken sie nicht richtig an die Hirnhautrezeptoren an, geraten Körperfunktionen durcheinander. „Als wäre ein Stromkabel kaputt“, veranschaulicht Jutta Gärtner. Bis es „repariert“ ist, können 72 Stunden vergehen, in denen nicht nur Kopfschmerzen, sondern auch Übelkeit und Erbrechen, Lichtempfindlichkeit oder Schwindel auftreten. Etwa 15 Prozent der Patientinnen und Patienten berichten von einer Aura im Vorfeld. Sie ist Zeichen einer elektrischen Erregungswelle auf der Hirnoberfläche und äußert sich in Seh- und anderen Sinnesstörungen bis hin zu Lähmungen.    

Ein Anfall wird immer von mehreren Auslösern getriggert. Sie reichen von hormonellen Schwankungen im weiblichen Zyklus über Änderungen im Schlaf-wach-Rhythmus bis hin zu Aufregung – egal, ob positiv oder negativ. Auch die Entspannung nach einer stressigen Phase, Stoffe wie Alkohol, Nikotin oder Koffein, verschiedene Nahrungsmittel oder Wetterveränderungen können eine Attacke auslösen. Jutta hat zum Beispiel oft Probleme, wenn es draußen stürmt.   

Fröhliche Abende mit Gästen, ein tolles Konzert oder Ausschlafen am ersten Ferientag müssen Migräniker/innen oft teuer bezahlen. Aber auch im normalen Alltag gibt es viele Reize. Eine Präsentation in der Arbeit, ein erkältetes Kind, das nicht durchschläft, oder ein anstrengender Großeinkauf können eine Migräne auslösen. Und das, was man dann am dringendsten braucht, nämlich uneingeschränkte Ruhe, ist im Arbeits- und Familienleben meist Mangelware.

Anderen deutlich machen, dass man nicht mehr kann

Vor allem berufstätige Mütter geraten schnell in einen unseligen Kreislauf, in dem sich die Migräneanfälle häufen. Jutta Gärtner, die seit 13 Jahren die „Migräne Selbsthilfe Bonn“ leitet und auch Mitglied der MigräneLiga ist, erlebt immer wieder, wie schwer es viele haben. „Mit Migräne kleine Kinder zu versorgen, ist wirklich hart. Viele Mamas sind unglücklich und überfordert.“ Umso wichtiger sind das Verständnis und die Unterstützung des Partners.

„Es ist jedoch schwer, anderen deutlich zu machen, dass man einfach nicht mehr kann“, weiß Jutta. Selbst ihr eigener Partner, der auch chronisch erkrankt ist, hat viele Jahre gebraucht, um Migräne zu verstehen. „Für ihn ist es schlimm, wenn ich dann reizbar bin und auch mal ungerecht werde“, sagt Jutta. „Mittlerweile aber erkennt er, wann ich Ruhe brauche und wann gar nichts mehr geht.“ Es sind diese Tage, an denen sie über der Kloschüssel hängt und kein Geräusch ertragen kann.

Wie belastend das auch für Angehörige ist, weiß Jutta sehr gut, denn sie hat als Mädchen die Migräneanfälle ihrer Mutter erlebt. „Plötzlich ließ sie alles fallen, konnte gerade noch den Herd ausschalten und zum Sofa taumeln. Sie hat dann nur eindringlich ‚Ruhe!‘ gesagt. Dann wurden mein Bruder und ich mucksmäuschenstill, brachten ihr eine Decke und ein Glas Wasser und blieben zur Sicherheit in der Nähe.“ Zwei- bis dreimal in der Woche kommt es zu solchen Anfällen, und die Kinder leiden mit.

Mehr Frauen als Männer betroffen

Dass Frauen häufiger mit Migräne zu tun haben, hat wahrscheinlich mit ihrem Hormonhaushalt zu tun, denn erst ab der Pubertät steigt die Zahl der weiblichen Betroffenen deutlich an. Jutta Gärtner, die in ihrer Selbsthilfegruppe ebenso viele Männer wie Frauen betreut, sieht noch einen anderen Grund: „Männer gehen mit ihren Problemen seltener zum Arzt als Frauen.“ Grundsätzlich gilt Migräne als unterdiagnostiziert. Etwa zwei Drittel der Patient/innen haben nie eine entsprechende Diagnose erhalten.

„Das liegt auch daran, dass sich viele Ärzte trotz der mittlerweile guten Forschungslage mit Migräne nicht auskennen“, ist Jutta Gärtners Erfahrung. „Selbst unter Neurologen, die für diese Erkrankung die ersten Ansprechpartner sein sollten, ist das Wissen oft begrenzt.“ So würden Betroffene viel zu häufig an psychosomatische Kliniken verwiesen, obwohl Migräne nachweislich keine psychosomatische Erkrankung ist. Am besten sei es daher, selbst zum Experten oder zur Expertin zu werden.

„Für Menschen, die unter einer starken Migräne leiden, ist der Austausch in einer Selbsthilfegruppe sehr hilfreich“, sagt Jutta Gärtner. Hier gibt es Infos über Prophylaxen, neue Medikamente und Therapien, gute Fachärzte und Kliniken. Hier findet Beratung statt, wenn es um Reha-Anträge oder die Kommunikation mit der Krankenkasse geht. Und hier darf jeder sein Herz ausschütten in dem Wissen, dass die Gruppe die eigene Not nachempfinden kann.

Ein Tagebuch hilft, den Triggern auf die Spur zu kommen

Dringend wünscht sich die Bonnerin mehr Angebote für Kinder und ihre Familien, denn die Zahl junger Patientinnen und Patienten steigt seit Jahrzehnten an. In den 70erjahren kannte nur jedes siebte Kind Kopfschmerzen, heute ist es jedes zweite. Neben den verbreiteten Spannungskopfschmerzen leiden etwa zwölf Prozent der Jugendlichen unter Migräne. Vor allem Schüler/innen sind betroffen. Leistungsdruck, zu wenig Bewegung an der frischen Luft und der ständige Blick aufs Smartphone machen es nicht besser.

Prophylaxe ist ein wichtiges Thema unter Migränepatientinnen und -patienten. Um Triggern auf die Spur zu kommen und Attacken vorzubeugen, ist es sinnvoll, ein Tagebuch zu führen. Regelmäßige Mahlzeiten, viel trinken, moderater Ausdauersport und ein strukturierter Tagesablauf sorgen dafür, dass der Körper der Migräne etwas entgegenzusetzen hat. Entspannungstechniken wie Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training oder Qigong können helfen, Migräneanfälle zu reduzieren. „Es ist wichtig, auf sich zu achten und zur Ruhe zu kommen“, sagt Jutta.

Für die gelernte Sekretärin ist es ein Segen, dass sie heute im öffentlichen Dienst arbeitet und ihr Büro mit nur einer Kollegin teilt. Die festen Zeiten und die ruhige Arbeitssituation sind Gold wert, denn sie hat auch erlebt, was es bedeutet, in einem Wirtschaftsunternehmen tätig zu sein. „Die Hektik und der Lärm im Großraumbüro, spontane Sitzungen, wenn eigentlich Feierabend sein sollte, das alles hat meine Migräne verstärkt.“ Dazu kam bei bis zu 15 Ausfalltagen im Monat die Angst um den Arbeitsplatz.

Neue Lebensqualität

Heute ist Jutta diese große Sorge los. „Nach jahrelangen Verhandlungen habe ich einen Schwerbehindertenstatus erhalten. Wenn man im Arbeitsleben steht und regelmäßig mit starker Migräne zu tun hat, sollte man auf jeden Fall einen Antrag stellen.“ Auch wenn der Grad der Behinderung nur bei 30 bis 50 Prozent liegt, kann man bei der Arbeitsagentur beantragen, dass man Schwerbehinderten gleichgestellt wird und damit vor Kündigung geschützt ist. Jutta Gärtner steht Antragstellenden mit Rat und Tat zur Seite.

Ihr selbst geht es heute wesentlich besser als noch vor einem Jahr. Seit einigen Monaten erhält sie eine neue Antikörperbehandlung, die als „Migräne-Impfung“ bekannt ist. „Gegen Ende meiner Wechseljahre war ich wieder an einem Punkt, an dem ich bis zu 15 Migränetage im Monat hatte und nichts mehr half.“ Acht andere Prophylaxe-Versuche scheitern, bevor sie das teure Medikament bekommt. Seither spritzt sie sich das Mittel einmal im Monat selbst. „Es hat mir eine neue Lebensqualität gegeben“, sagt sie dankbar.  

Migräne ist nicht heilbar und vererbt sich immer weiter. Schon die alten Inkas und Germanen kannten sie. Marie Curie soll ebenso darunter gelitten haben wie Vincent van Gogh oder Richard Wagner. Bei Hollywoodstar Jessica Biel löst das Blitzlichtgewitter der Paparazzi Anfälle aus. „Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung“, sagt Jutta Gärtner. Neue Behandlungswege und eine bessere Aufklärung lassen sie optimistisch in die Zukunft schauen: „Migräne wird es immer geben, aber wir kennen heute viele Mittel und Wege, um uns mit der Krankheit zu arrangieren.“


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