Selbstbewusstsein
Schüchterne Kinder stark machen
Sie weichen fremden Blicken aus, bleiben lieber im Hintergrund, fühlen sich bei Mama oder Papa am wohlsten: Elternberaterin Inke Hummel weiß, wie man schüchternen Kindern zur Seite steht.
veröffentlicht am 18.05.2022
Nana* war noch kein Jahr alt, als ihre Eltern merkten, dass sie auf fremde Menschen sehr ängstlich reagiert. „Es brauchte sie nur jemand anschauen, dann schrie sie panisch und beruhigte sich nicht“, erinnert sich ihre Mutter Fiona Lewald. Den Fuß ausmessen im Schuhgeschäft? Unmöglich. Arztbesuche? Der Horror. Familienfotos vom Fotografen? Keine Chance. „Auch mit anderen Kindern auf dem Spielplatz wollte Nana nicht spielen“, erzählt sie.
Wie unterschiedlich Kinder ticken, wissen alle, die mal eine Geburtstagsparty für den Nachwuchs geschmissen haben. Da gibt es die Lauten und Wilden, die Entspannten, die scheinbar mühelos mit anderen in Kontakt kommen, und es gibt die Nanas dieser Welt. Kinder, die zurückhaltend sind und vorsichtig, manchmal auch ängstlich, die sich am Rand erst mal wohler fühlen. Ihnen hat die Bonner Elternberaterin und Autorin Inke Hummel ein Buch gewidmet, in dem sie mit Vorurteilen aufräumt und Eltern viele Tipps gibt. „Mein wunderbares schüchternes Kind“, hat die studierte Pädagogin mit der entspannten, offenen Art ihren Ratgeber genannt. Ganz bewusst, denn in ihren Augen ist der Blick auf diese stillen Jungen und Mädchen oft sehr defizitär.
„Kommen Eltern wegen eines schüchternen Kindes zu mir in die Beratung, dann vor allem wegen besorgter Rückmeldungen aus dem Umfeld“, sagt die 44-Jährige, die selbst einen schüchternen Sohn hat. „Es heißt dann, mit dem Kind stimmt was nicht. Es macht nicht mit, passt sich nicht an, sitzt immer nur allein.“ Geht es auf die Einschulung zu, fangen viele Eltern an, sich Sorgen zu machen, ob sie vielleicht etwas übersehen haben. Dabei ist Schüchternheit solange kein Problem, wie Kinder und Eltern damit zurechtkommen. Oft verhalten sich Schüchterne im vertrauten Umfeld völlig gelöst, sind genauso schlagfertig und fröhlich wie andere Kinder. „Fühlen sie sich wohl in ihrer Haut, muss man nichts tun“, sagt Inke Hummel. „Manchmal jedoch leiden die Kinder, fühlen sich anders als die anderen oder werden ausgegrenzt. Dann gibt es viele Möglichkeiten, sie zu stärken.“
Das Kind annehmen, wie es ist
Bei schüchternen Menschen schlägt das Alarmzentrum im Gehirn schneller an. Vor allem ungewohnte Situationen lösen Stress aus. Das erlebt auch Fiona Lewald, wenn Nana von Fremden angesprochen wird. „Als Kleinkind wollte sie auf den Arm, später hielt sie sich an meinem Bein fest und wich hinter mich zurück.“ Immer war ihre Anspannung deutlich zu spüren. „Sie hat die Leute nie angeguckt oder mit ihnen gesprochen, sondern schaute immer auf den Boden.“ Das liebevolle Mädchen mit dem weizenblonden Wuschelkopf wirkt in diesen Augenblicken abweisend. Dabei kämpft sie einfach mit einer hohen Hemmschwelle, die sie als schüchternes Kind erst mal überwinden muss. „Wenn ein Kind in der Bäckerei etwas geschenkt bekommt, dann erwartet das Gegenüber ein Dankeschön oder wenigstens irgendeine Reaktion. Die könnte eventuell auch kommen, aber es dauert eben länger, als wir gewöhnt sind“, erklärt Inke Hummel.
Tatsächlich aber sind Zeit und Geduld zwei wichtige Faktoren, wenn Eltern ihr schüchternes Kind begleiten und stärken wollen. „Es ist eine Gratwanderung, die Kinder nicht zu überfordern, ihnen aber zugleich die Chance zu geben, an ihren Herausforderungen zu wachsen. Nur wenn sie öfter über ihre Hemmschwelle steigen, kann sie sinken“, sagt Inke Hummel und nennt als Beispiel das Schwimmenlernen im Badesee. „Viele Kinder sind Wasser gegenüber erst mal skeptisch. Nun könnte man sagen, du lernst jetzt schwimmen, ob du willst oder nicht, und mit dem schreienden Kind einfach ins Wasser gehen. Oder man fährt gar nicht mehr an den See.“ Besser ist, es immer wieder zu versuchen und sich langsam anzunähern: Wasser mit dem Eimer schöpfen, einen Fuß reinhalten, mit dem Kanu fahren. „Dabei sollten Eltern deutlich machen: Es ist mir wichtig, dass du schwimmen lernst, und ich weiß, dass du das schaffst.“
Fiona Lewald ist es über die Jahre gelungen, gemeinsam mit Nana einen guten Weg zu finden. Geholfen hat auch, dass die 29-Jährige selbst eher zurückhaltend ist und gut nachfühlen kann, was in ihrer Tochter vorgeht. Auch wenn es viele anstrengende Momente gab, hat sie Nana immer angenommen, wie sie ist, und sie nie gedrängt. „Gleichzeitig habe ich aber auch versucht, sie anzuschubsen und Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie über sich hinauswachsen konnte.“
Schule als Herausforderung
Je älter die Kinder werden, desto besser kann man über Momente reden, die ihnen schwerfallen. Gerade die Schule kann zu einer Herausforderung werden. Dort sind sie mit vielen Anforderungen konfrontiert. Die langen Stunden im Klassenraum ohne Rückzugsmöglichkeit, der Trubel auf dem Schulhof, mündliche Mitarbeit, Lernen in der Gruppe, Leistungsdruck und unterschiedliche Lehrkräfte, die mal besser, mal weniger gut auf sie eingehen können, sind nun ihr Alltag. Um ein schüchternes Kind darauf vorzubereiten, kann man bestimmte Situationen trainieren und eine Art inneren Werkzeugkasten zusammenstellen, auf den es zurückgreifen kann.
Wichtig ist auch, dass sich Eltern, Kind und Lehrkräfte gemeinsam austauschen und über Bedürfnisse und Schwierigkeiten sprechen. So können alle Beteiligten Verständnis füreinander entwickeln. Vielleicht kann die Lehrerin das Kind spielerisch ins Unterrichtsgeschehen einbinden. Vielleicht tut es für die Gruppenarbeit auch eine Zweierkonstellation und statt eines Referates kann es das Thema schriftlich ausarbeiten. Auch das Klima in der Klasse ist wichtig: Wie gehen die Kinder miteinander um, wird bei falschen Antworten gelacht, gibt es Hänseleien? Um Mobbing vorzubeugen, ist es gut, schüchterne Kinder in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken.
„Gibt es schlechte Erlebnisse in der Schule, braucht das Kind in der Freizeit Gelegenheiten zum Auftanken. Etwa durch ein Hobby, bei dem es seine Talente ausleben kann, mit anderen zusammenkommt und Spaß hat“, erklärt Inke Hummel. Auch Verantwortung zu übernehmen, kann stark machen. Im Familienalltag bietet sich dafür einiges an. Die Kinder können zum Beispiel ein Haustier pflegen oder ein eigenes Beet bepflanzen. „Solche Erfahrungen geben Kraft, um ungute Momente in der Schule besser auszuhalten.“ Zwischendurch sind bewusste Entspannung und auch Kuscheleinheiten sehr wichtig. Beides fördert die Bindung. Schüchterne Kinder müssen darauf vertrauen können, dass immer jemand hinter ihnen steht, der sie so liebt, wie sie sind. Schwer ist das nicht, denn Schüchterne haben viele tolle Eigenschaften. Sie sind oft empathisch und haben ein gutes Gefühl dafür, wie es anderen geht, sind verlässliche und loyale Freunde und oft sehr vielseitig interessiert.
Nana ist mittlerweile sechs Jahre alt und kommt immer mehr aus sich heraus. „Unsere früheren Nachbarn hatten sie abgestempelt. Als wir umgezogen sind, hat sie das befreit“, erzählt ihre Mutter erleichtert. „Wenn ich neuen Freunden erzähle, wie Nana früher war, können sie das gar nicht glauben.“ Auch heute reagiert ihre Tochter manchmal noch zögerlich. Der verlässliche Rückhalt durch ihre Eltern aber erleichtert ihr den Weg.
* Name von der Redaktion geändert