Inklusives Projekt

Theater für Menschen mit und ohne Behinderung

Bei der Freien Bühne München spielen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Theater – wegen Corona derzeit komplett digital. Wie das funktioniert? Ein Besuch bei Hauptdarsteller und Regisseur.
  • Stephanie Steidl

veröffentlicht am 29.11.2020

17. September, vormittags, eine Wohnung in der Münchner Maxvorstadt - Der Hauptdarsteller

Als Erstes ist da die schwarze Wand. Eine Wand aus Latten, zwei Meter hoch und zwei Meter breit, mit schwarzer Stoffbespannung. Durch Scharniere in der Mitte lässt sie sich ein wenig aufklappen. Man muss aufpassen, nicht dranzustoßen, sie fällt leicht um. Wie ein Raumteiler steht sie zwischen Bett und Schreibtisch, längs in das Zimmer hineingeschoben. Es ist das Zimmer von Luis Goodwin. Der 21-Jährige – brauner Vollbart, schwarz umrandete Brille, einen Silberring am Zeigefinger, bunte Silikon-armbänder – macht eine Ausbildung zum Schauspieler. Unterrichtet wird er an der Akademie der Freien Bühne München, einem inklusiven Theater für Menschen mit und ohne Behinderung.

Vor zwei Monaten hat sich Luis Goodwins Zimmer in einen Probenraum verwandelt. Es ist zur Bühne geworden, wegen Corona. Als sich abzeichnete, irgendwann im März, dass vieles anders werden würde, hat sich auch die Freie Bühne München darauf eingestellt. Trotz allem wollte das Ensemble auch in diesem verrückten, in diesem besonderen Jahr ein Stück aufführen – trotz allem oder jetzt erst recht. Aktuelle Bezüge sollte es haben und gesellschaftlich relevant sein. Die Wahl fiel auf „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco. Absurdes Theater also. Luis Goodwin spielt in dem Stück die Hauptrolle. Und so, wie sich die Menschen statt im Büro oder im Café via Zoom getroffen haben, hat auch die Freie Bühne München ihre Proben ins Digitale verlegt. Luis Goodwin zeigt zum Schreibtisch. Da steht, was er dafür braucht: Computer und Bildschirm, Webkamera, Lautsprecher, Mikrofon und eine Software für Videokonferenzen. Und die schwarze Wand, die für einen neutralen Hintergrund sorgt und allen Ensemblemitgliedern einen klar umrissenen Rahmen bietet.

Geprobt wird digital, jeder für sich und doch alle zusammen

Seit Juni proben sie so, die neun Schauspielerinnen und Schauspieler und der Regisseur, jeder allein vor seinem Computer und der schwarzen Wand, und doch irgendwie zusammen. Immer von montags bis freitags zwischen zehn und 17 Uhr. Theater im digitalen Raum statt auf der Bühne – cool, dass das möglich sei, sagt Luis Goodwin. „Aber ich spiele nur mit Bildern. Mir fehlen die anderen Menschen.“

Die anderen, die ploppen jetzt nach und nach auf seinem Bildschirm auf. Es ist kurz vor zehn, gleich beginnt die Probe. Luis Goodwin setzt sich an seinen Schreibtisch, neben sich ein Glas Wasser, Smartphone, Textbuch und ein Notizheft. Er schaltet Kamera, Lautsprecher und Mikro ein. „Morning, morning“ – „Hallo“ – „Morgen euch allen“ – „Ich hatte zwei Brote zum Frühstück, eins davon mit Parmaschinken“ – „Ich hatte zwei Spiegeleier mit Öl und Salz“ – „Ich mag Bacon“ tönen elf Kacheln durcheinander, ineinander. Es knarzt und knackt und rauscht. „Guten Morgen, ihr Lieben“, sagt Regisseur Jan Meyer. Luis Goodwin schaut auf den Zeitplan. Bis halb elf steht „Zusammenkommen“ auf dem Programm, den Rest des Vormittags der erste Akt der „Nashörner“. In dem Stück verwandelt sich eine französische Provinzstadt nach und nach in eine Herde von Nashörnern. Man kann den Text des Dramatikers Eugène Ionesco als Kritik an totalitären Regimen und dem Verhalten eines Volkes lesen, das widerstandslos folgt und sich „verwandeln“ lässt. Als Kritik an Massenbewegungen, egal welcher Couleur.

Nur einer bleibt in „Die Nashörner“ am Ende Mensch: Monsieur Bérenger, die Hauptrolle, die Luis Goodwin spielt. Was gefällt ihm an der Figur? Dass Bérenger gerne mal was trinkt, auf Partys geht und viel unterwegs ist. „Das mache ich auch“, sagt Luis Goodwin. Gut finde er den Schluss. „Bérenger bleibt seiner Menschlichkeit treu. Ich hätte es auch so gemacht.“ Wobei Nashörner auch Vorteile haben. „Die sind gut gepanzert, und wenn sich ein Mensch so verwandelt, ist er auch gepanzert.“ Nashörner sind cool.

„Ich mag es, Menschen glücklich zu machen“

Heute bei der Vormittagsprobe geht es um die Stelle, an der die Tiere zum ersten Mal in der Stadt auftauchen. „Oh, ein Nashorn!“ – „Was ist denn das?“ – „Nashörner aus der Gegenrichtung …“ Die Einwohner wundern sich, erschrecken, werden panisch, eine Kellnerin lässt ein Tablett mit Gläsern fallen. Außer Bérenger, der bleibt als Einziger gelassen. Auch Luis Goodwin sitzt ruhig da, nur die Füße wippen. An ein, zwei Stellen muss er sich vorbeugen, kommt mit dem Gesicht ganz nah an die Kamera heran: „Na sooowas – ein Naaashorn!“ Er lächelt. Schon in der ersten Klasse wusste er, dass er Schauspieler werden wollte. „Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, hatte nie Angst davor“, sagt er. „Das möchte ich mein Leben lang machen. Ich mag es, Menschen glücklich zu machen.“

Die Szene aus dem ersten Akt wird einmal geprobt, ein zweites Mal und noch einmal. „Hört bitte zu, wenn ich was sage“, sagt Regisseur Jan Meyer. Bei einem der Schauspieler wollen sich die Wörter in einem Satz nicht so aneinanderreihen, wie es das Textbuch vorsieht. Beim vierten Anlauf klappt’s. Ein anderer quatscht gerne mal rein. „Bleib konzentriert, dann läuft der Laden“, sagt Jan Meyer. Nicht immer ist klar, wie man stehen oder sitzen soll, ob man nach rechts schauen soll oder nach links, mal steht die Wand nicht an der richtigen Position. „Ohne Fleiß kein Preis“, sagt Jan Meyer. „In echt proben ist leichter“, sagt Luis Goodwin. „Ich bin froh, wenn ich wieder auf einer Bühne stehen kann.“ In der nächsten Szene hat er als Monsieur Bérenger einen Monolog. Wenn er hängt, soll er „Text“ sagen, dann gibt ihm der Regisseur ein Stichwort. Luis Goodwin muss ein paar Mal „Text“ sagen. Wach bleiben, mahnt Jan Meyer. Luis Goodwins Kopf sinkt Richtung Tischplatte. „Sch…!“ Als es besser läuft, ruft ein Kollege: „Luis, super!“, und klatscht und lacht in die Kamera.

Eine kleine Textänderung – damit blinde Menschen sich nicht benachteiligt fühlen

Vor der Mittagspause ist Rückmelderunde zur ersten Probeneinheit, das Team bespricht, was sie besser machen könnten. Zum Beispiel bei dem Satz „Was ist denn da los“ das „da“ zu betonen statt das „los“. An einer Stelle wird Text entschlackt – kurze Sätze sind am besten. Und statt „Ich bin doch nicht blind“ soll einer der Schauspieler „Ich hab doch keine Scheuklappen auf den Augen“ sagen. Damit blinde Menschen sich nicht benachteiligt fühlen.

Wie war sie für ihn, die Vormittagsprobe? Gut, sagt Luis Goodwin, er sei zufrieden. Klar, seinen Text muss er an einigen Stellen noch besser lernen. Ach ja, und das Digitale, aber daran gewöhne man sich. Einen Vorteil gebe es schließlich auch: „Die ganze Welt kann uns dann im Internet sehen.“ Und der Kollege, der sich schwertut mit dem Sprechen? „Das stört hier niemanden“, sagt Luis Goodwin.

17. September, nachmittags, eine Wohnung in München, Stadtteil Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt - Der Regisseur

Jan Meyer hat keine schwarze Wand in seinem Arbeitszimmer. Als Regisseur braucht er die nicht. Stattdessen viel Technik: zwei Bildschirme, zwei Tastaturen, hüfthohe Lautsprecher, Kopfhörer, Mikrofone. Im Bücherregal stehen Reclam-Hefte, Goethes Werke und das Kapital von Karl Marx. Jan Meyer trägt ein T-Shirt des Theaterkollektivs Girl to Guerilla und Hausschuhe aus Plüsch mit einem Knollennasen-Opa, dazu Socken, auf denen Badewannenenten mit Nikolausmützen schwimmen.

Nach Stationen in Saarbrücken, Bern, Potsdam und Berlin ist er seit fünf Jahren Künstlerischer Leiter der Freien Bühne München. „Hier, in diesem Ensemble, passiert dauernd etwas Neues“, sagt Jan Meyer. Man müsse die ganze Zeit hellwach sein, immer in Bewegung bleiben. Menschen mit Behinderung seien in anderen Lebensrealitäten zu Hause. „Ihre Impulse, etwas zu spielen, zu interpretieren, sind unbekannter, unerwarteter. Für mich ist das ein großer persönlicher Mehrwert.“ Das langweiligste Stück sei das, wo man schon vorher wisse, was am Ende passiert. Mit diesen Schauspielern käme er in Bereiche, die ihm sonst nicht zugänglich wären. Jan Meyer sagt Schauspieler-innen, mit kurzer Pause zwischen Schauspieler und -innen. Menschen mit Behinderung müssten repräsentiert sein, auch in der Kunst. „Ich will diese Leute auf der Bühne sehen, im Fernsehen, im Kino. Ich will diese Meinungen, diese Haltungen, diese Phantasien repräsentiert sehen.“

Das Stottern ist okay

Während er erzählt, tippt er auf einer der Tastaturen, klickt hin und her zwischen den Bildschirmen, schaut auf das brummende Handy. Gleich geht es weiter mit der Nachmittagsprobe, mit dem ersten Bild im zweiten Akt. Die elf Kacheln auf dem Bildschirm füllen sich nach und nach mit Gesichtern, zum Teil stumm, es sind noch nicht alle Mikros eingeschaltet. Einer der Schauspieler muss die schwarze Stellwand zurechtrücken. Das will nicht klappen, es rumpelt und hakt. „Wenn du es einmal schaffst, eine Woche lang die Stellwand cool dazuhaben, von Anfang an, kriegst du ein Geschenk“, verspricht Jan Meyer.

Die Büroszene wird geprobt, und einer der Schauspieler klemmt immer wieder fest, ist wie eingehakt zwischen Hauptsatz und Einschub. Wie Bremsklötze sind die Wörter. „Gleich hast du es“, ruft Jan Meyer, „ich glaube an dich!“ Auf einmal klappt es einigermaßen.

Bei einer Zigarettenpause draußen auf dem Balkon in der Septembersonne sagt Jan Meyer, dass die Behinderung halt da sei, man müsse damit umgehen. „Ich sage dann: Es ist okay, wenn du stotterst. Du kannst nichts dafür, du bist trotzdem Künstler-in.“

Leichter wäre es mit echten Proben. Wenn er körperliche Impulse geben könnte, näher dran sein könnte an seinen Leuten. Auf dem Bildschirm ist es schwierig mit dem Interagieren. Andererseits biete die digitale Produktion auch Chancen: filmisches Material mit hineinzunehmen, technisch völlig neue Wege zu gehen. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer am 9. Oktober die Premiere des Stückes als Livestream sehen, werden sich die Kacheln aufgelöst haben. Sie werden ein digitales Bühnenbild sehen, in das die Schauspielerinnen und Schauspieler live hineinmontiert werden. „Coole Herausforderung“, sagt Jan Meyer.

Interview mit FBM-Mitgründerin Angelica Fell

Inklusives Theaterprojekt

Die „Freie Bühne München“ (FBM) wurde 2013 als Verein gegründet und ist das erste inklusive Theater Bayerns mit professionellen Produktionen. Es steht allen Menschen offen, ob mit oder ohne Behinderung. Der FBM angegliedert ist eine Akademie für eine dreijährige Schauspielausbildung. Die Stücke werden von Ensemble und Leitung gemeinsam erarbeitet. Am 9. Oktober hatte mit „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco die erste digitale Produktion der FBM als Livestream Premiere. Auf dem YouTube-Kanal der FBM ist das Stück weiterhin abrufbar.


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