Ehrenamt

Von der Seele reden: Mitarbeit bei der Telefonseelsorge

Wer mit Gabriele E. spricht, steckt in der Krise oder braucht einfach jemanden zum Reden. Wir haben mit der Telefonseelsorgerin über die schwierigen und schönen Momente ihres Ehrenamtes gesprochen.

veröffentlicht am 15.12.2021

Manche Menschen wünschen sich zum 50. Geburtstag einen Wochenendtrip nach Paris, andere besuchen ein Konzert oder wagen endlich den lang erträumten Tandemsprung. Gabriele E. schenkte sich eine Ausbildung zur Telefonseelsorgerin. Ein Ehrenamt, das es in sich hat und das das Leben der Salzburgerin seit sieben Jahren nachhaltig prägt.

Ein Inserat im Programm des Salzburger Bildungszentrums St. Virgil weckt damals spontan ihr Interesse. Die Telefonseelsorge Salzburg sucht Bewerberinnen und Bewerber für ihre Ausbildung. „Ich bin ein Mensch, der wenig Berührungsängste kennt und ein offenes Ohr für andere hat“, beschreibt sich die Zahngesundheitserzieherin, die mit Kindern in Kindergärten und Schulen arbeitet. „Ich habe schon immer ein Interesse an anderen Menschen gehabt – sei es hauptberuflich oder ehrenamtlich.“

Jeder Mensch hat seine persönlichen Triggerpunkte

Zwei Monate trägt sie den Gedanken an die Telefonseelsorge mit sich herum, bevor sie sich bewirbt. „Ich war mir nicht sicher, ob ich der Aufgabe gewachsen sein würde. Ob ich zum Beispiel mit suizidalen Menschen würde umgehen können.“ Ihre Zweifel vertiefen sich zunächst nach dem Vorstellungsgespräch. „Da saß ich zwei Profis gegenüber, die sofort meinen persönlichen wunden Punkt gefunden haben, der mich bei bestimmten Anrufen angreifbar macht …“ Jeder Mensch hat diese Triggerpunkte. Bei Gabriele E. ist es das Thema Tod.

„Ich habe früh meine Eltern verloren, und als das zur Sprache kam, hat mich das ziemlich aus der Bahn geworfen. Dabei hatte ich eigentlich gedacht, ich hätte das verarbeitet“, erinnert sie sich. Nachdenklich geht Gabriele E. an diesem Tag nach Hause. Das Gespräch hängt ihr lange nach. Schließlich aber nimmt sie ihren Mut zusammen und entscheidet sich trotzdem für die Ausbildung. „Wenn ich einen ersten Schritt gemacht habe, mache ich auch den zweiten, und ich wollte wissen, ob ich das packe“, erklärt sie.

Auch heute kommt es vor, dass sie während ihres Dienstes am Telefon über das Thema stolpert. „Irgendwie habe ich das Gefühl, als würden gerade mich solche Anrufe immer wieder ereilen. In Österreich gibt es einen Ausdruck dafür: Man kriegt sein ‚Arsch-Engerl‘, an dem man wachsen kann“, schmunzelt Gabriele E., aber man spürt: Eine leichte Aufgabe hat sie als Telefonseelsorgerin nicht.

Dienste bei Telefonseelsorge und kids-line

Die kids-line für Kinder und Jugendliche ist von 13 bis 21 Uhr erreichbar, die Telefonseelsorge rund um die Uhr. Der Tag ist von 7.30 bis 22 Uhr in vier Dienste eingeteilt, dann übernimmt der Nachtdienst bis zum Morgen. Abends kommen die meisten Anrufe rein, nachts oft die schwierigsten. Bei der Telefonseelsorge rufen vor allem Menschen ab der Lebensmitte an. Im Winter mehr als im Sommer, bei Schmuddelwetter mehr als bei Sonnenschein. Auch eine Reihe Stammanrufer sind dabei.

Zwei- bis dreimal im Monat übernimmt Gabriele E. einen Dienst in der Salzburger Stelle. Dank Headset kann sie sich während des Telefonierens dort frei bewegen. Die Telefonseelsorge ist in einem schönen Altbau untergebracht, der Raum für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemütlich eingerichtet, mit einem bequemen Sofa, vielen Pflanzen und Büchern. Aus dem Fenster blickt man auf einen Balkon mit Blumen, am Horizont ragen die Berge auf. In der Küche gibt es Kaffee und kalte Getränke, Süßes und Obst. „Wir werden hier gut versorgt.“

Einen weiteren Dienst im Monat übernimmt Gabriele E. bei der kids-line. Hier telefoniert oder chattet sie mit Kindern und Jugendlichen. Bei den Älteren stehen häufig Erfolgsdruck und Versagens-
ängste im Vordergrund. Viele haben Mobbingerfahrung und ihr Selbstwertgefühl ist sehr gering. „Sie haben zum Beispiel das Gefühl, ihre Ausbildung nicht zu schaffen, und verzweifeln daran.“ Oft sind sie schon in psychologischer Behandlung, aber diese findet ja nicht rund um die Uhr statt. Wer noch keinen Therapieplatz hat, muss meist lange darauf warten.

„Wir blicken hier in Abgründe“

Auch bei den jüngeren Kindern sind die Nöte groß, und die kids-line-Beraterinnen und -Berater gelangen oft an ihre persönlichen Grenzen. „Wir blicken hier in Abgründe, die alle Vorstellungen sprengen. Wir hören Dinge, von denen man nicht glauben kann, dass es sie gibt“, sagt Gabriele E. ernst. Vernachlässigung, Missbrauch, Gewalt – das alles ist an der Tagesordnung und zieht sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten. „Seit dem Corona-Ausbruch ist es noch viel schlimmer geworden“, sagt die kids-line-Mitarbeiterin, die selbst Mutter von drei erwachsenen Töchtern ist.

Gabriele E. erinnert sich an den Anruf eines Kindes. „Es hat mir erzählt, dass es zur Strafe abends im Winter eine halbe Stunde auf den Balkon gestellt wird. Ohne Jacke und ohne Schuhe.“ Strafmethoden, die gang und gäbe sind und zugleich nur die Spitze des Eisbergs zeigen. „Es ist schier unerträglich, was die Kinder erzählen. Man fühlt sich so machtlos“, sagt Gabriele E. sichtlich bewegt.

Der Mut der Kinder und Jugendlichen, die sich aufgrund von prekären Erfahrungen melden, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die jungen Menschen spüren und schätzen den Raum des Vertrauens, der in der kids-line angeboten wird. Es ist für die Hilfesuchenden wichtig, dass nicht gleich eine Handlungskette in Gang kommt. Es geht um eine behutsame Suche nach dem, was am besten für das Wohl des Kindes oder der Jugendlichen ist.

Für die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge gibt es Supervision

In der Supervision für die kids-line-Mitarbeitenden geht es überwiegend darum, das Vorgehen bei einzelnen Fällen zu besprechen. Eine Möglichkeit ist, Vertrauenspersonen zu bitten, mit den Eltern in Kontakt zu treten. „Diese weisen die Vorwürfe meist von sich. Den Kindern wird selten geglaubt, und dann steht man schnell wieder am Anfang“, ist Gabriele E.s ernüchternde Erfahrung. Umso wichtiger ist es, dass den Kindern und Jugendlichen bei der kids-line Vertrauen geschenkt wird.

Auch für die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge gibt es Supervision. Darin geht es vor allem um Psychohygiene. „Wir sprechen über Dinge, die uns belasten. Darüber, wie es uns geht und wo wir an unsere Grenzen gekommen sind.“ An einen Moment erinnert sich Gabriele E. noch sehr genau. „Ich hatte nachts eine weinende junge Frau in der Leitung, die im Sterben lag. Sie wusste, dass sie nur noch ein paar Tage zu leben hatte, und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihrem Partner, der sie rührend umsorgte, noch einmal intim zu werden. Aber er konnte das nicht.“

Eine Stunde dauert dieses Gespräch und es geht Gabriele E. durch und durch. „Ich hatte keinen Trost für diese Frau, ich konnte ihr keine Hoffnung schenken.“ Das setzt ihr zu. Natürlich kann sie auch ihren Partner verstehen, aber darum geht es in der Telefonseelsorge gerade nicht. „Der Fokus liegt auf dem Anrufenden. Ihm gilt meine ganze Aufmerksamkeit. Das ist einer unserer wichtigsten Grundsätze.“

Das Gehörte hinter sich lassen und nicht in das private Umfeld mitnehmen

Die Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger begleiten die Anrufenden mit behutsamen Fragen an einen Punkt, an dem sie neue Wege für sich entdecken. „Viele Gespräche fangen schwierig an. So oft habe ich den Satz gehört: ‚Ich bringe mich um!‘ Aber genauso oft wird die Stimmung im Laufe des Gesprächs leichter und hoffnungsvoller.“ Für Gabriele E. sind das die Highlights. „Ich habe viele schöne Erinnerungen daran, und sie sind der Grund, warum ich es mache.“   

Die 56-Jährige ist eine der wenigen, die in Salzburg sowohl für die kids-line als auch für die Telefonseelsorge tätig sind. Nach sieben Jahren gehört sie bereits zu den erfahrenen Mitarbeitenden. „Ein stabiles privates Umfeld und Gesundheit sind wichtige Voraussetzungen für den Dienst“, erklärt sie. „Ist das nicht mehr gegeben, besteht die Gefahr, dass man seelisch ausbrennt.“

Gabriele E. fühlt sich der Aufgabe immer noch gewachsen. Sie hat gelernt, die Dinge, die sie am Telefon hört, hinter sich zu lassen und nicht in das private Umfeld mitzunehmen. Ein Grund, weshalb sie lieber in der Stelle telefoniert oder chattet als im Homeoffice. Ein zweiter sind Drohungen, die manchmal im Nachtdienst von alkoholisierten Anrufenden kommen. „Da heißt es schon mal: ‚Ich weiß, wo du wohnst, und ich steh vor deiner Tür.‘“ Auch wenn das nicht möglich ist, fühlt es sich für sie besser an, ihre Seelsorgetätigkeit vom privaten Bereich zu trennen.

Der Dienstplan wird immer zwei bis drei Monate im Voraus erstellt. Für Gabriele E. ist es Routine geworden, sich für die Dienste einzutragen. Mit Sorge bemerkt sie aber, dass es zunehmend schwieriger wird, die Dienste bei Tag und bei Nacht zu besetzen. Möglicherweise verändert sich auch die Bereitschaft, ehrenamtlich tätig zu werden. Dabei sei die Telefonseelsorge eine der besten Schulen des Lebens. „Man lernt so viel über sich selbst und darüber, was wirklich wichtig ist. Das ist einfach unbezahlbar und macht für mich den besonderen Wert dieser Arbeit aus.“  

Ausbildung zur Telefonseelsorge

Telefonseelsorge und kids-line Salzburg
Die Ausbildung bei der Telefonseelsorge und kids-line Salzburg dauert zwei Jahre und umfasst monatliche Ausbildungswochenenden, Praxiserfahrungen, Reflexion und Selbsterfahrung. Die Teilnehmenden zahlen einmalig 142 Euro. Sie verpflichten sich, nach der Ausbildung mindestens zwei Jahre lang zwölf Stunden im Monat in der Telefonseelsorge und kids-line mitzuarbeiten. Die meisten bleiben aber viel länger im Dienst. Die Ausbildung ist in ganz Österreich ähnlich aufgebaut. Infos unter www.ts142.at

Ausbildung in Deutschland
Die Ausbildung in Deutschland umfasst 120 Stunden und beinhaltet Selbsterfahrung und Gesprächsführung. Die fachlichen Schwerpunkte variieren an den einzelnen Stellen. Nach der Ausbildung arbeiten die Teilnehmenden circa 15 Stunden im Monat im Telefondienst, schreiben Mails oder chatten. Infos unter www.telefonseelsorge.de

So erreichen Sie die Telefonseelsorge

Telefonseelsorge Österreich
www.telefonseelsorge.at
Notruf: 142
Bei Tag und bei Nacht
Mail und Chat: www.onlineberatung-telefonseelsorge.at

kids-line Salzburg
www.kids-line.at
Hotline: 0800-234 123
Chat- und Telefonzeiten:
täglich 13–21 Uhr

Telefonseelsorge Deutschland
www.telefonseelsorge.de
Notruf: 0800 1110111, 0800 1110222, 116123
Bei Tag und bei Nacht
Mail und Chat: www.online.telefonseelsorge.de


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