Psychische Krankheit
Wie eine Familie mit ihrem Sohn gegen Depressionen kämpft
Albert litt schon früh unter Selbstzweifeln. Später erhielt er die Diagnose Depression. Die Eltern des adoptierten Jungen litten mit ihrem Kind und suchten Unterstützung. Mit Hilfe einer Therapie kann Albert heute ein einigermaßen normales Leben führen.
veröffentlicht am 30.09.2021
„Sie sollen glücklich sein!“, antworten die meisten Eltern auf die Frage, was sie sich für ihre Kinder wünschen. Was aber, wenn sie es nicht sind? Wenn ein quirliger Wirbelwind nur noch in seinem Zimmer hockt, eine kreative Träumerin sich immer mehr zurückzieht. Wenn Wutanfälle plötzlich an der Tagesordnung sind oder das Kind sich abends in den Schlaf weint. Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und stellen Eltern vor große Herausforderungen. Katrin Möller* hat ihren Sohn Albert durch diese Zeit begleitet.
Die 44-jährige Ergotherapeutin erinnert sich gut an den Moment, als sie merkte, dass etwas nicht stimmt. Albert kam von einer Klassenfahrt zurück und sie wartete mit anderen Eltern an der Grundschule. „Ich hatte Luftballons mit der Zahl 9 in der Hand, denn Albert hatte an diesem Tag Geburtstag. Wir freuten uns auf ihn“, erzählt Katrin. Doch dann stieg Albert aus dem Bus und sie sah sein verstörtes Gesicht: „Mein Gedanke war nur noch: Oh Gott, was ist diesem Kind passiert.“
Was Katrin an diesem Tag sah, waren erste Anzeichen einer Depression. Eine Erkrankung, die durch verschiedene Faktoren ausgelöst wurde. Die Klassenfahrt war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Wir hatten Albert vor der Reise versprochen, ihn jederzeit abzuholen, wenn irgendwas sein sollte. In der ersten Nacht musste er sich übergeben, aber niemand hat uns informiert.“ Alberts Freunde erzählten später, er habe die ganze Nacht durchgeweint. „Er muss sich sehr verlassen gefühlt haben.“ (Was tun, wenn mein Kind Depressionen hat? Interview mit Psychotherapeutin Julia Ebhardt)
Schulangst und Selbstzweifel
Ein Gefühl, das bei ihrem Sohn besonders schwer wiegt, denn Albert ist adoptiert. „Er kam mit neun Monaten zu uns“, erzählt Katrin, die gemeinsam mit ihrem Mann und zwei weiteren Pflegekindern am Niederrhein lebt. „Seine leibliche Mutter war 18 Jahre alt, als sie ihn bekam. Sie hat Albert von Herzen geliebt, war aber überfordert.“ Auch der Vater konnte nicht mit dem Baby umgehen. Albert wurde schließlich in Obhut genommen und zog von einem Tag auf den anderen bei den Möllers ein.
„Am Anfang hat er immer gelächelt“, erinnert sich Katrin. „Ich habe dann allen ein Foto von Albert geschickt, auf dem er besonders süß lachte.“ Sie stockt kurz und erzählt leise weiter. „Einmal sah ich nur die obere Hälfte seines Gesichts, weil ein Briefumschlag darüber gerutscht war. Da ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen, denn in seinen Augen lag die schiere Angst.“ Bis heute bemerkt sie es vor allem an Alberts Blick, wenn etwas nicht stimmt. „Er macht Probleme mit sich selbst aus, will niemandem zur Last fallen.“
Bei Katrin und Achim Möller fand Albert ein liebevolles Zuhause und entwickelte sich schnell. „Mit drei Jahren kannte er das Alphabet und schon als Vorschulkind konnte er im Zahlenraum bis hundert rechnen.“ Ein späterer IQ-Test ergab eine Hochbegabung. Dennoch fiel ihm die Schule nicht leicht. „Er hat sich schon früh unter Druck gesetzt und hatte Selbstzweifel. In der ersten Klasse litt er unter Schulangst, bekam keinen Ton heraus, wenn er aufgerufen wurde.“ Den Lehrern gelang es nicht, hinter die Fassade des zurückhaltenden Jungen zu blicken.
Ein aktiver Junge mit Entdeckergeist
In seiner Freizeit war Albert anders, ein aktiver Junge mit Entdeckergeist, gerne in Bewegung. Ein loyaler Freund und großer Bruder. Die Probleme in der Schule nahmen jedoch zu. Albert braucht klare Strukturen, um sich sicher zu fühlen, aber in der Klasse herrschte zunehmend Unruhe, das Klima wurde rauer. „Ein Junge hat Albert oft provoziert. Einmal sagte er zu ihm: ‚Ich kann total verstehen, dass deine Mutter dich auf der Kirchentreppe ausgesetzt hat.‘ Albert war tief verletzt und ließ seine Wut und Verzweiflung an seiner Schultasche aus.“
Nach der Klassenfahrt spitzte sich die Lage zu. „Er stand total unter Strom. Mal war er aggressiv, mal zog er sich komplett zurück“, berichtet Katrin. Die Familie tat alles, um ihn aufzufangen. Bis zu dem Tag, als Albert weinend im Arm seiner Mutter lag und sagte: „Mama, ich glaube, ich möchte nicht mehr leben.“ Katrin weinte gemeinsam mit ihrem Sohn. Noch heute ist sie sichtlich bewegt, wenn sie davon erzählt. „Ich hatte Angst um ihn, seine Traurigkeit hat mir das Herz zerrissen.“ Zugleich wurde ihr klar: „Wir schaffen es nicht alleine.“
Mit Hilfe des Jugendamtes gelang es ihr, einen Therapieplatz für Albert zu finden. Die Diagnose lautete mittelschwere Depression. „Die Psychologin schaffte es, Alberts Vertrauen zu gewinnen und ihm Stück für Stück den Glauben an sich selbst zurückzugeben“, sagt Katrin dankbar. In der Therapie lernte er zu entspannen und Stress abzubauen. Für Albert sehr wichtig, denn der Schulalltag wurde nicht einfacher und auch zu Hause gab es Probleme. Sein Pflegebruder erkrankte an Epilepsie und Albert machte sich große Sorgen.
Die Mutter machte sich Vorwürfe
Katrin fiel es schwer, seine emotionale Not zu sehen. Sie litt mit ihrem Sohn, machte sich Vorwürfe, weil sie ihn nicht vor der Depression hatte schützen können. „Ich musste lernen, seine Situation mit einem gewissen Abstand zu betrachten. Nur so war ich stark genug, um ihn zu unterstützen.“ Auch die richtige Balance zwischen Erziehung und Beziehung zu finden, war nicht immer einfach. „Wenn er aus Wut wieder etwas kaputt gemacht hatte, wollten wir einerseits konsequent sein. Andererseits war uns klar, dass seine Depression der Grund für diese Ausfälle war.“
Zweieinhalb Jahre dauerte die Therapie. In diese Zeit fiel Alberts Wechsel auf die weiterführende Schule. „Wir haben bewusst ein katholisches Gymnasium gewählt, weil ihm die klaren Regeln und Rituale dort guttun“, sagt Katrin. Albert fand neue Freunde, kam besser mit den Lehrern zurecht. „Sie sehen, was er kann und unterstützen ihn, auch wenn er keine Bestnoten schreibt.“ Heute geht der 14-Jährige einmal im Monat zur Rückfallprophylaxe. Das gibt auch Katrin eine gewisse Sicherheit: „Wir halten die Augen weiterhin offen.“
Das empfiehlt sie auch anderen Eltern. „Wenn Kinder über einen längeren Zeitraum traurig sind, sollte man nicht zu lange warten. Drei Wochen Rückzug, ohne Anlass, sind nicht normal“, macht sie deutlich. „Auch bei aggressivem Verhalten sollte man aufmerksam werden und sich Hilfe holen. Wir sind dankbar für die Unterstützung, die wir bekommen haben. Für uns war die Therapie die Rettung!“
* Namen der Familienmitglieder von der Redaktion geändert