Leben in der Krise
Wie unsere Familie den Lockdown überstand
Unsere Autorin erzählt von den ersten drei Wochen des Lockdown in ihrer Familie, bestehend aus Mutter, Vater, 13-jähriger Tochter und 11-jährigem Sohn.
veröffentlicht am 04.06.2020
Chaos und Struktur
Die Woche vor den Schulschließungen war die reine Kastrophe. Oder zumindest sehr, sehr anstrengend. Weil alles unklar war und keiner wusste, was kommt. Also ständig Spiegel online, Christian Drosten, Kultusministerium, WhatsApp-Klassenelternchats, mit Freunden und Familie schreiben und telefonieren. Einschließlich eines handfesten Konflikts mit meinem Bruder, weil wir damals noch die Situation komplett unterschiedlich eingeschätzt haben. Gleichzeitig versuchen, normal zu arbeiten, einzukaufen, Englischvokabeln abzufragen und den Hasenstall sauber zu machen.
Die erste Woche ohne Schule war auch Katastrophe. Und noch anstrengender. Weil sich jetzt erst mal alle zu Hause zurechtwuscheln mussten. Am Sonntag habe ich einen Koller gekriegt und a) das Gästezimmer grob entrümpelt und zum Mama-Rückzugsraum erklärt und b) ein Netflix-Abo abgeschlossen.
Die zweite Woche war dann gut. Jetzt hatten wir uns gefangen (schräges Bild an dieser Stelle, ich weiß). Wir hatten neue Strukturen und Abläufe entwickelt. Die Kinder hatten kapiert, dass sie was für die Schule tun und ab und zu die Spülmaschine ausräumen müssen. Die Lehrer hatten kapiert, was die Familien leisten können – und was nicht. Mein Mann, freiberuflicher Fotograf, hatte keinen einzigen Auftrag mehr, aber dadurch Zeit, sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Bei mir liefen die Auftragsbücher über (wieder ein schräges Bild, aber okay). Gearbeitet habe ich wie sonst auch in unserem gemeinsamen Heimbüro im Dachgeschoss.
Dankbarkeit
Auch in gewöhnlichen Zeiten bin ich jeden Tag dankbar. Für das Haus, in dem wir leben, die Arbeit, die wir haben, die Kinder, unsere Freunde und überhaupt. Ich freue mich über mein Marmeladenbrot am Morgen, darüber, dass die Mülltonnen regelmäßig geleert werden, und, dass ich mit meiner neuen Lesebrille wieder so gut lesen kann. Dass ich genug Essen und Wärme und meistens genug Schlaf habe. In diesen Wochen denke ich besonders oft daran, wie gut es uns geht. Und bin dafür ganz besonders und unendlich dankbar.
Lustige Momente
- Im Wald: Eine Bekannte geht am Nachmittag in dem kleinen Wald bei uns um die Ecke spazieren, gefolgt von ihrem Sohn, ungefähr drei Köpfe größer als sie, mit langen Haaren und Bartflaum. Er wirkt, als hätte er den Wald erstmals seit zehn Jahren wieder betreten. Sie wirkt, als sei ihr das auch bewusst.
- Beim Einkaufen: Ich habe endlich Klopapier gekriegt. Die Satteltaschen meines Fahrrads sind voll, also kommt die Zwölferpackung auf den Gepäckträger. Dummerweise muss ich noch in einen anderen Laden. Was tun? Das Klopapier unbewacht auf dem Fahrrad lassen – in diesen Zeiten? Alle anderen Möglichkeiten, die ich im Kopf durchspiele, funktionieren nicht. Am Ende bleiben die Rollen auf dem Gepäckträger. (Das Ergebnis meines kleinen unfreiwilligen Tests: Als ich wieder rauskomme, ist das Klopapier noch da.)
- In Social Media: Posts zum Alltag in der Krise, viele davon wirklich witzig. Aber nach dem gefühlt 150. kann ich lustige Videos nicht mehr sehen
Freie Zeit
Wir haben Glück: Wir gehören nicht zu denen, die plötzlich so viel Zeit haben, dass sie aus Frust den kompletten Keller streichen oder freiwillig Matherätsel lösen, die irgendjemand in die WhatsApp-Gruppe postet. Wir zählen aber auch nicht zu denen, die rund um die Uhr im Einsatz sind und vor lauter Arbeit und Anspannung kein Auge mehr zukriegen. Bei uns ist es so dazwischen. Das heißt: Wir haben deutlich mehr Zeit als sonst. Und das zu viert. Immerhin zu viert, aber eben auch nur zu viert. Ohne Freunde, Kollegen, Nachbarn, Klassenkameraden, ohne die Menschen aus dem Chor oder dem Sportverein. Ein Experiment.
In der ersten Ohne-Schule-Woche haben wir Kieselsteine bemalt, Kerzen mit Wachsmotiven verziert, Handyhüllen aus Filz genäht. Wir waren jeden Tag draußen, in unterschiedlichen Konstellationen, meistens im Wald, bei den Froschteichen oder sonst irgendwo bei uns im Viertel. In dieser Woche habe ich belustigt zugeschaut, als die Nachbarin und ihre sechsjährige Tochter, beide in schwarzem Gymnastikoutfit, im Garten Turnübungen gemacht haben.
In der zweiten Woche stand ich selbst mit meinen Kindern abends im Wohnzimmer. Unsere 13-Jährige hat die Übungen aus dem Boxtrainig absolviert und war nach fünf Minuten durchgeschwitzt. Mein Sohn hat zwei Liegestütze gemacht und anschließend eine Viertelstunde lang den Timer auf seinem Handy programmiert. Ich habe mit zwei gefüllten 1,5-Liter-PET-Flaschen versucht, meinen Rücken und mein seit einer OP besonders liebesbedürftiges Hüftgelenk dazu zu bringen, die Stellung zu halten. Wir haben wieder allerhand gebastelt. Und wir haben viel mehr Filme angeschaut (und viel mehr Chips gegessen), als wir das normalerweise tun.
Was uns wichtig ist
Natürlich haben wir, mein Mann und ich und auch die Kinder, schon oft darüber geredet, was uns wichtig ist im Leben. Bedürfnisse und Wünsche ändern sich je nach Alter der Kinder. Rituale und Regeln müssen mitwachsen. Jetzt, in dieser sehr speziellen Zeit, schnurpselt unser Leben zwangsläufig zusammen. Auf unser Viererteam und unser Reihenmittelhaus mit Garten.
Also versuchen wir, so zu leben, dass es allen gut geht in diesen Wochen, schauen, was jeder von uns braucht und wie wir es schaffen, die unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Dabei merken wir auch sehr deutlich, was uns fehlt, was wir vermissen, worauf wir uns besonders freuen, wenn „es“ vorbei ist.
Zusammengefasst, das zeigt uns diese Zeit, gehören zu den Dingen, die uns wirklich wichtig sind, vor allem: gemeinsame Zeit, Zeit für jeden alleine, gute Freunde, Natur, Kreativität, unsere (Groß-)Familie, Humor, Rücksichtnahme, Verantwortungsbewusstsein, unser Zuhause, Kochen und Essen, Bücher, Sonne, Bewegung.
Es kann sein, dass Anfang Juni, wenn dieses Heft erschienen ist, die Krise einigermaßen überwunden ist. Es kann sein, dass alles noch viel schlimmer geworden ist.
Und jetzt?
Wenn jetzt Anfang Juni wäre, wüsste ich, ob Schulen und Restaurants wieder geöffnet haben. Ob wieder Gottesdienste und Theatervorstellungen stattfinden. Ob diejenigen unter unseren Nachbarn, Freunden und Verwandten, die als besonders gefährdet gelten, die vergangenen Wochen gut und gesund überstanden haben. Ob wir wieder Freunde zum Grillen besuchen können. Ob mein Mann neue Aufträge bekommen hat und die Kinder uns überreden konnten, das Netflix-Abo zu behalten. Und ich wüsste, welche der schönen Pläne für die Osterferien, die wir auf die große Tafel in der Küche geschrieben haben, wir tatsächlich umgesetzt haben: im Garten zelten, Maulwurfkuchen backen, noch mehr Steine anmalen, singen, Fahrrad fahren, Kaninchen-Videos drehen, lesen, ein Osterfeuer machen … Die Liste ist ziemlich lang.