Geschwister
Zusammen stark – Zu Besuch bei einer Großfamilie
Nur wenige Kinder wachsen heute mit mehr als einem Bruder oder einer Schwester auf. Für Maximilian, Felix, Benedikt und Anna ist das anders. Wir haben die Geschwister und ihre Eltern in München besucht.
veröffentlicht am 18.05.2021
„Soll ich dir zeigen, wie ich einen Salto mache?“ Der siebenjährige Maximilian hängt an dem schwarzen Seil eines ansonsten bunten Klettergerüsts auf einem Spielplatz im Münchner Stadtteil Trudering. Rund um ihn seine drei Geschwister. Sein kleiner Bruder Felix beobachtet genau, wie er immer noch sitzend seinen ganzen Körper einmal rund um das waagrecht gespannte Seil schwingt. „Maxi, wie machst du das?“ Der Sechsjährige will das auch können.
Gerade die beiden Ältesten, Maximilian und Felix, vergleichen sich viel, sagt Mutter Maria eine Stunde zuvor im Garten des Reihenhauses, in dem die Familie wohnt. Wenn es um Fertigkeiten wie Klettern oder Rennen gehe, sei das für den Moment ein richtiges Konkurrenzverhältnis, erklärt die blonde 44-Jährige, die darum bittet, den Namen ihrer Familie nicht zu nennen. Aber an diesem Tag, auf dem Klettergerüst, hilft der Älteste seinem Bruder bereitwillig dabei, sein Ziel zu erreichen.
Mehr Freiheit durch viele Geschwister
Auch der vierjährige Benedikt und seine zweijährige Schwester Anna hängen sich gerne an die Fersen ihrer großen Brüder. Mit der gut fünf Meter langen Rutsche auf dem Spielplatz haben alle vier gemeinsam große Freude. Mehr oder weniger koordiniert drängen sie auf das silbern glänzende Metall. Kaum sind alle unten angekommen, löst sich das Knäuel aus Geschwistern auf, sie laufen lachend die ausgetretenen Pfade des Hügels wieder nach oben und es geht von Neuem los.
Gelegentlich löst ein kurzes Weinen das fröhliche Kichern und Gackern ab. Das sind die Momente, in denen Mutter Maria kurz eingreift, tröstet, zur Vorsicht mahnt, nur um dem Treiben anschließend wieder seinen Lauf zu lassen. Keine zehn Sekunden später drängeln sich wieder alle Geschwister am Kopf der Rutsche. Andere Eltern würden vielleicht häufiger einschreiten. Maria sieht es gelassen. „Wenn man mehr Kinder hat, lernt man auch, ihnen mehr zuzutrauen.“ In den vergangenen Jahren hat sie ein Gespür dafür entwickelt, wo sie von vornherein Grenzen setzen muss und wann wirklich etwas Schlimmeres passiert sein könnte. Sie weiß, dass Anna sich gerne mit Weinen durchsetzt, dass Benedikt schnell einmal schreit, auch wenn nicht viel passiert ist, dass Felix besonders hilfsbereit und Maximilian eher vernünftig ist.
Zu Hause teilen sich die vier Kinder aktuell zwei Räume. „Wir hätten mehr Zimmer, aber sie wollen zusammen schlafen“, klärt ihre Mutter auf. Lange hatten alle vier ein gemeinsames Kinderzimmer. Nun aber teilt sich Maximilian, der Älteste, einen Raum mit Anna, der Jüngsten, während Felix und Benedikt gemeinsam ein eigenes Zimmer bezogen haben. So habe Felix als Zweitgeborener auch einmal die Vorreiterrolle und könne mehr Verantwortung übernehmen.
„Wir waren immer froh umeinander"
Marias Mann Andreas ist Arzt. Der schlanke 40-Jährige ist an diesem Tag nur ausnahmsweise zum Mittagessen zu Hause. Während die Kinder schon auf dem großen beigen Sofa im Wohn- und Esszimmer herumklettern, sitzt er auf der Bank am Esstisch, isst Gemüsenudeln mit Bockwurst und genießt sichtlich die kurze Zeit mit der Familie. Häufig arbeitet er zwölf Stunden am Tag. „Er hat einen total guten Zugang zu den Kindern“, betont seine Frau später. „Aber ihm fehlt was – und den Kindern fehlt auch was.“
Zugunsten der Familie lässt Maria ihre Arbeit als Mittelschul-Lehrerin vorübergehend ruhen. Als Beamtin hat sie es später leicht, in den Job zurückzukehren, und kann sich das auch gut vorstellen. „Das wird irgendwann sein, wenn wir merken, dass es die Situation erlaubt oder erfordert“, sagt sie und meint damit ausdrücklich auch ihre eigenen Bedürfnisse. Aktuell hat sich das Paar aber ganz bewusst für diese Arbeitsteilung entschieden. Auch wenn beide um die Zeit froh sind, in der Andreas unter stützen kann. „Am Wochenende ist er zu Hause, das ist super“, gibt Maria erleichtert lachend zu verstehen. Als ehrenamtliches Mitglied im Bundesvorstand der Katholischen Pfadfinderschaft Europas hat sie sich auch jenseits der Arbeitswelt ein „Fenster nach draußen“ geschaffen, wie sie es nennt. Das sei zeitaufwendig und nicht ganz einfach neben der Familie. Aber es tut ihr gut.
Beide Eltern sind selbst mit mehreren Geschwistern aufgewachsen. „Ich fand das schon immer toll, dass wir vier Kinder waren“, erzählt Maria. Ihr Mann habe auch zwei Geschwister. Mehrere Kinder zu bekommen, haben sie sich von Anfang an gewünscht. „Wir haben das sowohl selbst als positiv als auch im Umfeld bei Freunden als schaffbar und realisierbar erlebt“, erinnert sie sich. In ihrer Kindheit im Chiemgau sei sie mit ihren drei Geschwistern nie allein gewesen. „Wir waren immer froh umeinander.“
Sozialkompetenz: Note 1
Dem bayerischen Landesvorsitzenden des Verbands Kinderreicher Familien Deutschland (KRFD), Helmut Magis, zufolge entwickeln Kinder mit vielen Geschwistern die Fähigkeit, sich in Gruppen wohlzufühlen. „Die Kinder profitieren sicherlich in ihrem Selbstbewusstsein, in ihrer Selbstständigkeit, in ihrer Sozialkompetenz und ihrer emotionalen Intelligenz ganz enorm“, ist der 52-jährige fünffache Vater und Rechtsanwalt überzeugt. Außerdem gewinnen sie durch die größere Familie mehr Freiheit, „weil sie eine viel größere Anzahl an sozialen Beziehungen haben“, erläutert er.
Magis verweist aber auch darauf, dass für eine gute Entwicklung in kinderreichen Familien Voraussetzungen wie ausreichend Platz und Zeit nötig sind. Der Verband setzt sich deshalb unter anderem gegenüber der Politik und mit Beratungsangeboten für die Belange von kinderreichen Familien ein.
Wo viele Menschen zusammenleben, kommt es natürlich auch einmal zu Streit. So auch zwischen Maximilian, Felix, Benedikt und Anna. Immer wieder müssen die Eltern dann auch eingreifen, berichtet Mutter Maria. „Oftmals schaffen sie es noch gar nicht, das selber zu klären.“ Eine Entschuldigung ist den Eltern dann immer wichtig. Außerdem versuchen sie, den Kindern zu vermitteln, dass jeder auch einmal warten muss. Und dass jeder auch mal der Erste sein darf. Aber zum Glück sei Streit auch immer schnell wieder vergessen. „Da ist keiner nachtragend.“
In der Corona-Zeit enger zusammengerückt
Wenn es um häufig wiederkehrende Fragen der Gerechtigkeit untereinander geht, können die Geschwister aber auch sehr selbstständig sein. Während Anna alters bedingt bei jedem Essen neben Maria sitzt, waren sich die Brüder noch bis vor Kurzen selten einig, wem der verbleibende Platz neben der Mutter zusteht. Seit einigen Wochen aber haben sie ganz ohne Zutun der Eltern für sich eine Lösung gefunden. „Einer darf in der Früh, einer am Mittag, einer am Abend.“ Sie ist sichtlich stolz auf ihre Kinder. Auch wenn die Reihenfolge einmal nicht eingehalten wird, haben sie laut ihrer Mutter dafür immer eine gerechte Lösung. „Ich kann mir nicht merken, wer wann dran ist“, gibt sie zu.
In der Coronazeit ist die Familie enger zusammengerückt. „Wir haben einfach unglaublich viel Zeit miteinander verbracht“, stellt Maria mit Blick auf das vergangene Jahr fest. Aber schon vorher waren Maximilian, Felix, Benedikt und Anna füreinander da. „Wenn Kinder aus der Nachbarschaft einen von uns ärgern, dann halten sie zusammen.“ Auch auf dem Spielplatz oder wenn sie den Garten der Familie mal durchs Hintertürchen in Richtung Nachbarschaft verlassen, passen die Geschwister aufeinander auf. „Sie lassen selten einen allein“, betont ihre Mutter. „Und natürlich lernen sie auch viel voneinander.“ So wie an diesem Tag Maximilian und Felix auf dem Klettergerüst.