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Freundschaften in der digitalen Welt
Die Eltern sind verzweifelt. Ihr 14-Jähriger hat keine Freunde mehr. Oder doch? Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn eröffnet dem Papa eine völlig fremde Lebenswelt. Die neue Kolumne von Hannes Pernsteiner.
veröffentlicht am 09.09.2022
Freunde sind für einen Teenager das wichtigste im Leben, das ist heute nicht anders als früher. Verändert hat sich aber, wie Freundschaft verstanden und gelebt wird. Deutlich sehe ich dies bei unserem 14-jährigem Sohn: Dass er so gut wie nie Schulkollegen oder Nachbarn nach Hause zum Spielen oder auch nur Lernen mitbringt, wie dies seine jüngeren Schwestern noch tun, bereitet meiner Frau und mir manchmal Kopfzerbrechen. Auch am Einladen zu Geburtstagspartys ist seit Beginn des Gymnasiums jegliches Interesse verschwunden. Von „meinen Freunden“ redet unser Filius dennoch häufig: Wenn er sich zu Online-Videospielen verabredet, und vor allem dann, wenn es um Instagram geht. Wie oft schon haben wir Eltern darüber „das ist ja keine Freundschaft“ genörgelt. Irgendwann beschloss ich, Gutes darin erkennen zu wollen und mit ihm darüber zu reden – und erlebte eine positive Überraschung.
Vorausschicken muss ich, dass unser Sohn abseits des Bildschirmlebens ein Hobby hat: Er bastelt mit Knetmasse Figuren aus Filmen, Videospielen oder aus dem echten Leben, die er dann, nach aufwändigem Fotoshooting, auf Instagram postet. Auf mehr als 1.000 Follower hat er es damit schon geschafft, noch wichtiger ist für ihn jedoch die von ihm ins Leben gerufene „Clay Group“: Eine Insta-Community von etwa 20 Kindern im Alter von 8 bis 16 Jahren, die alle mit Fimo modellieren. Außer aus Österreich sind dort auch kleine Künstler aus den Niederlanden, Spanien, Bulgarien, Russland, Oman, Libanon und Indien vertreten, die Verkehrssprache ist Englisch. „Irgendwann fiel mir auf, dass ich meist von denselben Usern Kommentare bekam und selbst ihre Werke kommentierte. Als ich ihnen vorschlug, eine Gruppe zu gründen, waren sie alle gleich dabei“, erzählt er mir.
Lob von „Fachkollegen“
Wenn ich meinem Sohn bei seinen Interaktionen über die Schulter blicken darf, fühle ich mich an den Club von Hobby-Filmern zurückversetzt, den ich mit 16 eine Zeitlang besuchte: Da werden Werke der einzelnen Mitglieder angesehen, praktische Tipps ausgetauscht, neue Werkzeuge besprochen, Ideen entwickelt, vor allem aber gibt es Lob, Anerkennung und Rückhalt von „Fachkollegen“. Kritik bleibt dabei meist genauso außen vor wie Debatten zu Politik und Religion. Freilich ist das Internet schneller, internationaler und bietet neue Möglichkeiten: gegenseitige Weiterempfehlungen, für 24 Stunden sichtbare Erwähnungen auf der eigenen „Story“, mit denen man den Freunden zu mehr Zugriffen, Likes und Abonnenten verhilft; Blitzumfragen, welche Figur man als nächstes basteln soll; Bilderrätsel, die man sich gegenseitig stellt und schließlich auch Strategien, wie man „Mentions“, also Erwähnungen, von den Stars der Szene – Youtuber, Instagramer und Spiele-Accounts mit Millionenpublikum – erhascht.
Der Moderator der „Clay Group“ nimmt seine Aufgabe ernst: Tauchen neue Knetkünstler im Insta-Universum auf, lädt er diese in die Gruppe ein und begrüßt sie. Artet die gesunde Konkurrenz in anstößige Bemerkungen aus, erinnert er an die „Netiquette“. Zu Geburtstagen werden Plastillintorten fabriziert und Bilder davon zugeschickt. Immer wieder startet er „Challenges“, bei denen zeitgleich dieselbe Figur erstellt und dann gepostet wird. Man verabredet sich zum Videospiel, was aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen herausfordernd ist. Und auch ein Gruppenanruf kam bereits zustande: Via Videotelefonie war mein Sohn eine Stunde lang mit Holland und dem Libanon verbunden, bastelte am selben Projekt und quatschte dabei auch über das Leben fernab von Fimo und Play-Doh. Das Besondere dabei: Erstmals zeigte man dabei das Gesicht („face reveal“) – das sonst wie der echte Name ein gut gehütetes Geheimnis ist, denn jeder schützt seine Privatsphäre.
Verantwortung übernehmen und Englisch üben
Eine völlig fremde Lebenswelt hat sich mir eröffnet. Unser Vater-Sohn-Gespräch lässt uns heute über Medien und Mediennutzung anders reden lässt als früher, als wir immer nur über die Online-Dauer stritten. Ich bin stolz darüber, wie mein Großer im Internet Verantwortung übernimmt, seine Englischkenntnisse vertieft, viele andere begeistert für ein Hobby, das ohne Insta kaum attraktiv wäre, und mich im Umgang mit Medien alt aussehen lässt. Jugendkultur ist heute Digitalkultur, und da wird auch bei Freundschaften nicht zwischen online und real unterschieden, müssen wir Eltern wohl oder übel zur Kenntnis nehmen. Trotzdem freuen wir uns über Momente wie kürzlich, als unser Sohnemann bei einem Familienspaziergang einen früheren Schulkameraden erspähte und entwischte, um mit ihm ungestört zu reden. Ganz ohne persönliche Präsenz kommt man im Leben dann halt doch nicht aus.