Herzenssache
Wie Don Bosco: Polizist hilft Jugendlichen in Not
Im Polizeidienst begegnet Carlos Benede einem Jungen, der mitansehen musste, wie der Vater die Mutter ermordete. Benede adoptierte das Kind und nahm später ein weiteres bei sich auf. Schließlich gründete er ein Wohnheim für Jugendliche.
veröffentlicht am 01.11.2015
Die Entscheidung kam aus dem Bauch heraus. Ohne allzu langes Überlegen, ohne eine Nacht drüber zu schlafen oder andere um Rat zu fragen. „Ja“, sagte Carlos Benede, als er gefragt wurde, ob er die Pflegschaft für ein Kind übernehmen, ihm ein Zuhause geben wolle. Die Frage hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Man hatte ihn ins Münchner Jugendamt gebeten, was ihn nicht weiter verwunderte, weil er als Polizist beim Kommissariat für Opferschutz öfter mit dem Jugendamt zu tun hatte. Doch dann, als er dort im Büro saß, einem älteren Herrn in Birkenstocks, ausgebeulter Cordhose und Strickpullover gegenüber, vor sich eine Tasse Tee, war mit einem Mal klar, dass es diesmal nicht um eine rein berufliche Angelegenheit ging. Dass mehr gefragt war, ein Engagement, das weit über alle Dienstzeiten hinausging, das Benedes gesamtes Leben betraf.
Das war 2001. Carlos Benede war damals 39 Jahre alt und Single. Er hatte einen anstrengenden Job, ging gerne nach Feierabend mit den Kollegen noch ein Bierchen trinken und genoss es, außer seinem Hund niemandem verpflichtet zu sein. Auf den ersten Blick nicht die idealen Voraussetzungen, um ein Kind bei sich aufzunehmen. „Ich weiß nicht genau, was mich damals bewogen hat, Alex zu mir zu nehmen“, sagt Benede heute. Vielleicht lag es daran, dass er den Jungen und seine Vorgeschichte kannte, dass er ihm ans Herz gewachsen war und dass Alex selbst sich „einen wie den“ als neuen Vater gewünscht hatte. Kennengelernt hatte Carlos Benede den Jungen in seiner Rolle als Polizist beim Opferschutz. Der damals Elfjährige hatte miterleben müssen, wie seine Mutter ermordet wurde – von seinem „Erzeuger“, wie Alex ihn heute nur noch nennt. Das Wort Vater hat er längst für seinen Adoptivvater reserviert.
Im Bericht über die Tat konnte Benede nachlesen, dass Alex’ Mutter wegen ihres gewalttätigen Ehemannes bereits unter Polizeischutz gestanden hatte, dass es dem Mann trotzdem gelungen war, nachts in die Wohnung einzudringen, und dass die zum Schutz abgestellten Beamten, die durch Licht und laute Stimmen alarmiert in die Wohnung stürmten, die Mutter in einer Blutlache auf dem Küchenboden fanden, den Täter noch vor Ort festnahmen und den Jungen, der, aufgeschreckt durch den Lärm, im Schlafanzug aus dem Kinderzimmer getappt war, zu entfernten Verwandten brachten. Benede bekam den Auftrag, sich um den Elfjährigen zu kümmern, ihn auf dem Weg zu begleiten, der juristisch vor ihm lag, und sich vorsichtig an das heranzutasten, was der Junge über die Tat und deren Vorgeschichte wusste. Der Polizist traf sich oft mit Alex, begleitete ihn durch den gesamten Gerichtsprozess und zum Besuch bei seinem Vater im Gefängnis. Danach war sein offizieller Auftrag beendet. Bis zu dem Moment, als er dem Herrn vom Jugendamt gegenübersaß und die Frage hörte: „Können Sie sich vorstellen, die Pflegschaft für ein Kind zu übernehmen?“
Einer, der mit Jugendlichen umgehen kann
Rein äußerlich passt die Vaterrolle irgendwie zu Carlos Benede. Er ist ein gemütlicher Typ, kräftige Figur, kariertes Hemd und ärmellose Trachtenweste drüber, die Haare angegraut, sanfte Augen hinter den Brillengläsern. Alex hat er nicht nur zur Pflege aufgenommen, sondern später sogar adoptiert. Und der Junge blieb nicht der Einzige, dem er zur Seite stand: Ein paar Jahre später nahm der Polizist ein zweites Kind auf, das Ähnliches erlebt hatte wie Alex. Und im Jahr 2012 gründete er mit Freunden schließlich den „Weitblick Jugendhilfe e.V.“, eine Einrichtung, in der Jungen zwischen sieben und 18 Jahren in schwierigen Lebenslagen ein Zuhause finden. Seinen Job bei der Polizei hat der 53-Jährige Anfang 2015 aufgegeben. Jetzt ist er Vollzeit für seine Jungs da – und glücklich damit. „Für mich hat sich damit ein Kreis geschlossen“, sagt er. Weil er heute das weitergeben kann, was er als Kind und Jugendlicher selbst erfahren hat: das Gefühl, bedingungslos angenommen und geliebt zu werden.
Aufgewachsen ist Carlos Benede in einem Kinderheim der Dillinger Franziskanerinnen im Allgäu. Die Mutter hatte ihn gleich nach der Geburt abgegeben. Der Vater war unbekannt. „Wenn man erzählt, dass man im Heim aufgewachsen ist, erntet man meistens misstrauische Blicke oder Mitleid“, sagt Benede. Das kann er nicht leiden. Denn für ihn war die Kindheit im Heim eine sehr glückliche Zeit. „Die Schwestern waren immer für uns da. Wir wurden wahrgenommen und angenommen mit unseren Stärken und Schwächen, nicht zurechtgebogen.“ Bis heute betrachtet er die Schwestern als seine Mütter, hat noch immer Kontakt zu ihnen und weiß, dass er sie immer um Rat fragen kann, dass sie ihn noch immer begleiten, so wie sie es getan haben, als er noch ein Kind war.
„Kinder brauchen einen, der das Gute in ihnen sieht und zu ihnen steht, auch dann, wenn sie Mist gebaut haben, wenn sie schwierig sind und nicht in unsere gesellschaftlichen Schubladen passen“, sagt Benede. Und wenn er dabei ein bisschen wie Don Bosco klingt, dann ist das kein Zufall. Denn als ihr Schützling nach dem Schulabschluss eine Lehre in München begann, suchten die Dillinger Franziskanerinnen ihm einen Platz im Wohnheim der Salesianer Don Boscos. Dort hat Benede miterlebt, wie die Patres und Ordensbrüder mit den Jugendlichen umgegangen sind: „Nicht mit Strafe, sondern mit Güte und Offenheit wirst du sie zu Freunden gewinnen – das war kein hohles pseudopädagogisches Geschwafel, das wurde tatsächlich gelebt“, erzählt Benede über seine Zeit im Münchner Salesia-num. „Ich erinnere mich an Pater Häusler, Pater Schweiger, den Schwaller Sepp und den Lingauer Joe – die haben wirklich mit den Jugendlichen gelebt, sich direkt mit ihnen auseinandergesetzt, so wie Don Bosco eben. Das hat mich fasziniert. Vielleicht sind sie sogar so was wie meine geheimen Vorbilder.“
Dass Carlos Benede selbst Talent im Umgang mit Jugendlichen hat, erkannten die Ordensmänner im Münchner Salesianum schnell. Sie ermutigten den jungen Mann, nach seiner Lehre als Schuhverkäufer den Realschulabschluss nachzuholen und sich zum Erzieher ausbilden zu lassen. Ein paar Jahre arbeitete Carlos Benede im Don Bosco Heim in Regensburg. Eine Zeit lang dachte er sogar darüber nach, dem Orden beizutreten. „Aber letztlich hätte das für mich nicht gepasst. Dafür stehe ich der Amtskirche einfach zu kritisch gegenüber“, meint er heute. Was er aber tief verinnerlicht hat, sind die pädagogischen Grundsätze Don Boscos: jedem Jugendlichen offen und mit Respekt begegnen, ganz egal, was für eine Vorgeschichte er mit sich herumträgt. Das ist etwas, das Benedes Arbeit im „Weitblick“ bis heute prägt. Damals, Ende der 1980er-Jahre, schlug er jedoch zunächst eine ganz andere Richtung in seinem Leben ein. Durch den Vater eines der Jugendlichen, die er im offenen Jugendtreff betreute, bekam er das Angebot, zur Polizei zu gehen – und nahm an.
Eine Zeit lang arbeitete er als verdeckter Ermittler beim Bayrischen Landeskriminalamt, Mitte der 90er-Jahre ließ er sich nach München versetzen, wo er vor allem in der Techno-Szene als Drogenfahnder unterwegs war. „Die Dealer, die uns da bei den Razzien ins Netz gingen, waren meist kleine Fische, die den Job machten, um sich von dem Geld selbst Drogen kaufen zu können“, erzählt der 53-Jährige. „Da sitzen dann diese Kids vor dir, immer wieder dieselben. Und du ertappst dich bei dem Gedanken: Armes Schwein, was hat dich dazu gebracht?“ Beim LKA war es ihm leichter gefallen, Distanz zu den Tätern zu wahren. „Das waren alles knallharte Typen, große Nummern in ihrem Metier.“ Doch die kleinen, meist jungen Dealer aus der Münchner Techno-Szene weckten in Benede wieder den Erzieher. Er wollte sie nicht einfach einsperren – er wollte ihnen helfen, aus Drogensucht und Beschaffungskriminalität auszubrechen, ein neues Leben anzufangen. So wie es Don Bosco getan hätte. „Als Polizeibeamter mochte das, was ich tat, erfolgreich sein – erfüllend für mich als Mensch war es nicht.“ Als 1997 ein neues Kommissariat für Prävention und Opferschutz gegründet wurde, wechselte Benede dorthin. Hier konnte er außer Polizist auch wieder Pädagoge sein und Menschen helfen. Zum Beispiel Alex.
Der Junge war ihm wichtiger als alles andere
Natürlich war es nicht immer leicht, Vater zu sein und einem Jungen an der Schwelle zur Pubertät, geprägt von den Gewaltausbrüchen seines leiblichen Vaters, traumatisiert durch den Mord an seiner Mutter, gerecht zu werden. Alex wollte zum Beispiel seinen neuen Vater mit niemandem teilen und konnte nach dem Tod seiner Mutter keine andere Frau in der Mutterrolle akzeptieren. Für Benede bedeutete das, auf eine Partnerschaft, ein eigenes Liebesglück zu verzichten. Er hat es getan, weil der Junge ihm wichtiger war als alles andere. Aber Schwierigkeiten gab es auch sonst genug: „Als Alex so 15, 16 war, da dachte ich, jetzt fliegt uns alles um die Ohren“, gesteht Benede. „Er hatte ja nie eine Therapie im klassischen Sinn gemacht und dann kam noch die Pubertät dazu. Da war ich echt nahe dran, zu sagen: Ich schaffe das nicht mehr.“
Dass er trotzdem durchgehalten hat, liegt nicht nur an seiner Liebe zu Alex und seinem eisernen Willen, den Jungen auf keinen Fall aufgeben zu wollen. Es liegt auch daran, dass er in schwierigen Zeiten Kraft aus seinem Glauben schöpfen konnte. Die Dillinger Franziskanerinnen haben ihrem Schützling diesen Glauben mit auf den Weg gegeben, der ihm bis heute das beruhigende Gefühl gibt, auch in Notsituationen nicht allein, sondern von Gott getragen zu sein. „Glaube ist für mich eine wichtige Stütze im Alltag“, sagt Benede. Einen Entschluss wie den für Alex fasst er jedoch eher aus dem Bauch heraus. Und mit Don Bosco im Herzen.