Sexueller Missbrauch
Alles dafür tun, dass junge Menschen sicher sind
Auch gegen Salesianer Don Boscos wurden im Jahr 2010 Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs bekannt. Ein Interview mit Provinzial Pater Gesing und Provinzialvikar Pater Vahlhaus über Aufarbeitung und Prävention im Orden.
veröffentlicht am 01.09.2019
Im Jahr 2010 wurden schwere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs und von Grenzüberschreitungen gegenüber jungen Menschen durch Salesianer Don Boscos und ehemalige Mitarbeiter bekannt. Seitdem beschäftigt sich eine mit ordensinternen wie -externen pädagogischen, psychologischen und juristischen Fachleuten besetzte Kommission mit der Aufklärung der Vorwürfe. Darüber hinaus wurden umfangreiche Maßnahmen der Sensibilisierung und Prävention etabliert. Provinzial Pater Reinhard Gesing und Provinzialvikar Pater Christian Vahlhaus über die Erfahrungen aus neun Jahren Aufarbeitung und neue Ansätze in der Präventionsarbeit.
Pater Gesing, Sie begleiten seit 2010 die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Einrichtungen der Salesianer Don Boscos in früheren Jahrzehnten. Was würden Sie als Ihre wichtigste Erfahrung bezeichnen?
P. Gesing: Das Wichtigste war für mich, die Geschichten der Menschen zu hören, die in unseren Einrichtungen waren und dort Leid bzw. verschiedene Formen des Unrechts – sexuellen Missbrauch, aber auch Misshandlungen – erlebt haben. Diese Geschichten haben mich tief berührt und betroffen gemacht und lernen lassen, wie Menschen mit solchen Erfahrungen umgehen und was sie für sie bedeuten.
Was war in den Jahren die größte Schwierigkeit?
P. Gesing: Wir wollen den Betroffenen in ihrer Situation gerecht werden, weil sie viel Leid erlitten haben. Aber ich merke auch, dass wir letztlich ein Stück ohnmächtig sind. Wir können nicht ungeschehen machen, was damals geschehen ist. Unsere Möglichkeiten, den Menschen zu helfen, sind begrenzt. Wo wir helfen können, wollen wir es tun, zum Beispiel durch die von der Deutschen Bischofskonferenz vorgesehenen Anerkennungsleistungen. Wir wollen die betroffenen Menschen auch in therapeutischen Prozessen unterstützen. Aber darüber hinaus stoßen wir an unsere Grenzen.
Was hat sich seitdem innerhalb der Ordensgemeinschaft geändert?
P. Gesing: Wir waren und sind immer geneigt, das Gute zu sehen, das durch viele Salesianer in unserer Geschichte im Dienst an jungen Menschen bewirkt worden ist. Das ist nach wie vor berechtigt. Im Jahr 2010 wurden wir dann aber auch sehr hart damit konfrontiert, dass es auch eine andere Seite gibt. Dass es Salesianer gibt, die eine schwere Schuld auf sich geladen haben und die jungen Menschen, die ihnen anvertraut waren und die sie gebraucht hätten, für ihr Leben geschadet haben. Diese dunkle Seite der Geschichte anzuschauen, war und ist ein sehr schmerzlicher Prozess für uns. Es hat uns insgesamt demütiger und bescheidener gemacht.
P. Vahlhaus: Für die Mitbrüder, gerade für die jüngeren, gehört das Thema Kinder-, Jugend- und Mitarbeiterschutz heute wie selbstverständlich zu ihrem Leben als Ordensmann wie auch zu ihrer Arbeit als Sozialpädagoge oder Erzieher im täglichen Dienst an den jungen Menschen. Neben einer intensiven Auseinandersetzung hat die Thematik der Prävention sicher heute auch für eine höhere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gesorgt.
Bei Ihrem Provinzkapitel im Juni haben Sie ausführlich über den heutigen Stand der Aufarbeitung informiert und weitere Schritte zur Aufklärung angekündigt, darunter unter anderem die Beauftragung einer Überprüfung sämtlicher Personalakten und relevanter Daten durch eine externe Kanzlei. Was erhoffen Sie sich daraus?
P. Gesing: Im Laufe von Jahrzehnten sammeln sich sehr viele Akten an. Es geht darum, herauszufinden, ob es noch weitere Erkenntnisse gibt über Vorfälle, die wir bisher nicht kennen. Wir beauftragen eine unabhängige Anwaltskanzlei, weil wir deutlich machen wollen, dass wir dabei nichts manipulieren oder verstecken wollen und dass wir diesen Prozess offen und transparent angehen wollen.
Neben der Aufarbeitung der Vergangenheit geht es auch um die Etablierung von Maßnahmen der Sensibilisierung und Prävention. Welche neuen Ansätze sehen Sie hier?
P. Vahlhaus: Ein neuer Ansatz ist, dass wir das Amt des Missbrauchs- und des Präventionsbeauftragten auf zwei Schultern verteilt haben: ein Beauftragter, der Ansprechpartner für Missbrauchsopfer ist, und ein Beauftragter, der ganz stark im präventiven Bereich tätig ist und die Arbeit in unseren Einrichtungen vor Ort unterstützt, evaluiert – und natürlich überprüft.
Darüber hinaus würde ich nicht von neuen Ansätzen sprechen, sondern von der Fortsetzung dessen, was wir in unseren Richtlinien zum Kinder-, Jugend- und Mitarbeiterschutz bereits 2010 festgeschrieben haben – angefangen bei den Strukturen und Standards einer Prozesskette über eine Selbstverpflichtungserklärung unserer Mitarbeitenden bis zu einem Katalog von verpflichtenden Fortbildungen und Schulungen. Es geht uns vor allem darum, dass dieses Konzept nicht nur ein schönes Papier ist, sondern, dass es gelebt wird.
P. Gesing: Wir wollen alles dafür tun, dass junge Menschen in unseren Einrichtungen sicher sind und sich sicher fühlen, und dass ihre Eltern wissen, dass ihre Kinder bei uns gut aufgehoben sind. Kern jeglicher Prävention ist es, junge Menschen stark zu machen, damit sie fähig sind, auf ihre Bedürfnisse zu achten, wo nötig, Grenzen zu setzen und sich aktiv einzubringen.
Wie wirkt sich die Missbrauchskrise auf den pädagogischen und seelsorglichen Alltag aus, in dem es immer wieder auch um Fragen von Nähe und Distanz geht?
P. Gesing: In verschiedenen Gesprächen mit Mitbrüdern und Mitarbeitern habe ich eine Unsicherheit wahrgenommen, wie man ganz konkret mit bestimmten Situationen umgehen kann. Eine Frage, die mir einmal gestellt wurde, lautete: Darf man als Seelsorger überhaupt noch Kinder segnen? Ich würde sagen: Ja, natürlich! Da gehört auch eine Berührung dazu, wie Jesus das im Evangelium getan hat. Aber: Ich kann einem Kind den Segensgestus anbieten, und wenn das Kind diesen nicht möchte, muss ich das respektieren. Wenn man die Selbstbestimmung des anderen achtet, kann man auch pädagogische und seelsorgerliche Nähe pflegen.
P. Vahlhaus: Wir haben für alle neuen Mitarbeitenden Einführungsseminare, in denen das Thema der Prävention einen breiten Raum einnimmt. Gleichzeitig müssen wir auch schauen, dass das Arbeiten mit jungen Menschen noch möglich ist. Das heißt, dass wir den Mitarbeitenden Sicherheit geben müssen im pädagogischen, aber auch im seelsorglichen Bereich, wobei im Alltag die konkreten Situationen von Nähe und Distanz regelmäßig zu reflektieren sind.
Das Ansehen der katholischen Kirche und auch das Vertrauen in Ihre Arbeit leiden schwer unter dieser Last. Was muss passieren?
P. Gesing: Zum einen: Wir müssen zeigen, dass wir es mit der Aufarbeitung des Geschehenen ernst meinen und dass wir bereit sind, aus der Vergangenheit die Lehren für heute zu ziehen. Zentral ist dabei vor allem die Kultur der Achtsamkeit. Ein Zweites ist, dass wir unsere heutige Arbeit immer wieder reflektieren und ihr eine hohe Qualität verleihen, indem wir eine gute Pädagogik und Seelsorge anbieten, die den heutigen Standards entspricht. Letztlich kann man alles darin zusammenfassen, dass wir – ganz im Sinne unseres Gründers Don Bosco – alles dafür tun wollen, damit das Leben der uns anvertrauten Menschen gelingt.