Kinderschutz

Prävention gegen Missbrauch und Gewalt

Kinder-, Jugend- und Mitarbeiterschutz stehen bei Don Bosco an erster Stelle. Was das für die Arbeit in den Einrichtungen bedeutet – am Beispiel von Sannerz, Stams, Berlin und Bonn.

veröffentlicht am 01.09.2019

Jugendhilfezentrum in Sannerz – Respekt muss man üben

Konzentriert schleift Timo* (12) über das Holz. Er arbeitet an einer kleinen Spielzeugkegelbahn. Über der Werkbank in der Förderwerkstatt in Sannerz hängt ein rundes Schild mit drei Buchstaben darauf in jeweils roter, blauer und gelber Farbe: R, A und D. Das R steht für Respekt, A für Aufmerksamkeit und D für Disziplin. Die Begriffe finden sich auch ausgeschrieben überall auf großen und kleinen Schildern in der Werkstatt. RAD ist ein pädagogisches Konzept, das in Sannerz seit 21 Jahren zur Prävention von Mobbing und Gewalt und für ein gelingendes Leben der anvertrauten jungen Menschen angewandt wird.  

„Respekt muss man üben. Das bedeutet, dass man anderen hilft“, erklärt Timo. Anleiter Peter Thomé führt das präventive Prinzip weiter aus. Respekt, Aufmerksamkeit und Disziplin seien gleichermaßen wichtig und bauten aufeinander auf. „Wenn eines dieser Teile fehlt, dann bleibt das Rad stehen“, erklärt er. Respekt gelte jedem, „egal, ob fünf, 15 oder 85 Jahre alt“. Und auch sich selbst gegenüber. Aufmerksamkeit bedeute, dass die Jungen sich selbst Ziele setzen. Diese sollen positiv sein und realistisch, ehrlich und erreichbar, wie: „Ich stehe pünktlich auf.“ Aber auch etwa bei Streitereien: „Ich mache das nicht, ich gehe jetzt aus der Situation heraus.“ Disziplin heiße, es immer wieder zu versuchen und durchzuhalten. Auch das neue Element „Boxenstopp“ passt in das RAD. Jeden Dienstag können die Teilnehmenden hier etwa mitreden, wie das Zusammenleben angenehmer werden kann – etwa besondere Ruheorte für die Älteren zu schaffen. Sie können kritische Situationen nachspielen oder Vertrauensspiele machen. Eine Gruppe Jugendlicher nimmt ein Metermaß in die Hand. Gemeinsam sollen sie es auf den Boden bringen. Gar nicht so einfach, wenn man nicht zusammenarbeitet.

„Wir haben das RAD nicht neu erfunden“, sagt Thomé. Es stamme aus dem Coolnesstraining, das gewaltbereite junge Menschen trainieren soll, besser Verstand als Faust zu nutzen. Jeder Junge und Mitarbeitende werde in Sannerz von Beginn an mit RAD vertraut gemacht. Und die Beharrlichkeit, RAD einzufordern, sei wichtig. „Wenn einer sagt: ‚Du Missgeburt‘, da muss ich reagieren.“ Oft käme es aber vor, dass die Jungen gegenseitig einschritten. „Das ist nicht richtig“, sagen sie dann. Und Thomé lobt: „Das hast du richtig erkannt.“

RAD werde sowohl von Mitarbeitenden als auch Jugendlichen verinnerlicht. „Es gehört überall hin, es ist Empowerment“, sagt Thomé. Wichtig sind dabei: Offenheit, Transparenz und Begegnung auf Augenhöhe.    

*Name von der Redaktion geändert

Sozialpädagogische Wohngruppe Amanda in Stams – Wir schützen uns gegenseitig!

Jeden Morgen um sieben Uhr kommen die Mädchen aus der Wohngruppe Amanda für einige Minuten im Gruppenraum zusammen. Sie sitzen im Kreis auf dem Boden und stimmen sich auf den Tag ein. Auf dem Teppich in der Mitte liegt eine Kette aus Karabinerhaken. Ein Zeichen dafür, dass jede Bewohnerin zählt, ein Zeichen für die Gemeinschaft.

Neun Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihren Familien leben können, sind in der sozialpädagogischen Wohngruppe des Don Bosco Hauses im kleinen Ort Stams in Tirol untergebracht. Mehrere der Mädchen haben, bevor sie in die Gruppe kamen, sexuelle Gewalt erlebt. Unter diesen Bedingungen die Kinder und Jugendlichen für das Thema zu sensibilisieren, ist nicht einfach. Aaron Latta, der die sozialpädagogischen Einrichtungen im Haus der Don Bosco Schwestern leitet, beschreibt, wie es trotzdem funktioniert.

Zwei Aspekte sind aus seiner Sicht entscheidend: Die Sensibilisierung beginnt im Team; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reflektieren, wie sie mit Berührungen umgehen, leben einen angemessenen Umgang mit Nähe und Distanz vor. Und: Der Schlüssel zur Präventionsarbeit ist eine gute Beziehung zwischen Kindern und Betreuern.

In den monatlichen WG-Konferenzen kommen Themen wie Gewalt und Missbrauch regelmäßig zur Sprache. Im Gruppenalltag setzen die Betreuerinnen und Betreuer auf eine gute Vertrauensbasis mit ihren Schützlingen. Sie stellen Informationen zur Verfügung, helfen den Mädchen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, und halten generell Augen und Ohren offen für deren Anliegen.

Das wichtigste Instrument, um mit den Mädchen an dem Thema zu arbeiten, sind die sogenannten Notfallpläne, die Latta und sein Team entwickelt haben. Jedes Mädchen hat einen persönlichen Plan, auf dem Auslöser für Gewalt gegen sich und andere, der Umgang mit Gefühlen, mögliche Gefahrensituationen sowie Hilfsmöglichkeiten schriftlich festgehalten sind. In der WG hängt ein Papier, das ähnliche Aspekte für die Gruppe definiert. Ein weiterer Notfallplan gibt den Mitarbeitern klare Handlungsanweisungen, wie bei Verdacht oder erfolgter Gewalt vorzugehen ist.
Das Konzept scheint aufzugehen. „Du musst selber Mut haben in dir“, sagt ein Mädchen, während es an dem langen, hölzernen Esstisch im offenen Wohnbereich der WG zu Mittag isst. „Wir schützen und stärken uns gegenseitig in der Gruppe“, erklärt eine 16-Jährige. „Wir wissen, dass jemand hinter uns steht, dass wir nicht alleine sind, dass wir uns sicher fühlen können.“

Jugendhilfezentrum Manege in Berlin – „Der präventive Charakter prägt das ganze Haus“

Ihr Lachen ist schon von Weitem zu hören. Laut und klar hallt es durch die Flure der Berliner Manege. Diese Fröhlichkeit und offene Art sind das Markenzeichen von Vera Rodenstock. Die Sozialarbeiterin versucht, viel bei den Jugendlichen zu sein und sich jeden Namen einzuprägen. Das sei ihr besonders wichtig, erklärt sie. „Denn zu jemandem, den sie nicht kennen, kommen sie auch nicht mit ihren Problemen.“ Seit zehn Jahren arbeitet die 33-Jährige in der Manege gGmbH im Don-Bosco-Zentrum in Marzahn, einer Einrichtung der Salesianer Don Boscos und der Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel für benachteiligte junge Menschen – mit den Schwerpunkten der Jugendsozialarbeit, der Jugendberufshilfe und der Jugendhilfe. Außerdem ist sie seit mehreren Jahren Kinder-, Jugend- und Mitarbeiterschutzbeauftragte, zusammen mit ihrem Kollegen Johannes Maucher.

Die beiden ergänzen sich sehr gut. Im Vergleich zu der energiegeladenen Vera Rodenstock wirkt der 41-jährige Sozialpädagoge etwas ruhiger und wählt seine Worte bedächtiger. Eine feste Sprechstunde haben die beiden nicht. Wenn Konfliktsituationen entstehen, können die Jugendlichen und Mitarbeiter sie jederzeit ansprechen. Und wer anonym bleiben möchte, hat die Möglichkeit, sein Anliegen aufzuschreiben und den Zettel in einen roten Briefkasten zu werfen, der etwas versteckt gegenüber dem Speisesaal hängt.

Die meisten Probleme würden allerdings direkt in den Gruppen und Werkstätten gelöst, berichtet Johannes Maucher. In diesem Jahr gab es erst drei Vorfälle mit einer kleinen Schlägerei, bei denen sie dazu geholt wurden. „Die Präventionsarbeit liegt nicht allein bei uns“, führt er aus. „Alle Mitarbeiter haben immer offene Augen und Ohren. Daher eskaliert ein Konflikt selten extrem. Der präventive Charakter prägt das ganze Haus hier.“ Und wenn die beiden sozusagen als „Feuerwehr“ doch einmal ausrücken müssen, geht es hauptsächlich um zwischenmenschliche Konflikte. Zum Beispiel, dass sich Jugendliche verletzt fühlen, weil in WhatsApp-Gruppen über sie geredet wird. „Unsere Jungen und Mädchen bringen ja schon starke psychische Belastungen mit. Dadurch kocht das schneller hoch“, ergänzt Vera Rodenstock. „Mobbingerfahrungen hatten die alle schon. Daher nennen die Jugendlichen uns auch die Mobbing-Beauftragten. Mit Schutzbeauftragten können die nichts anfangen, denn sie fühlen sich alle nicht wie Kinder, die beschützt werden müssen.“

Don Bosco Volunteers – Chancen und Risiken von Nähe und Distanz kennenlernen

Auf dem großen Flipchartpapier an der Wand balanciert ein Strichmännchen zwischen zwei Begriffspaaren: Nähe und Distanz. Es ist der dritte Tag des letzten Vorbereitungsseminars der angehenden Auslandsfreiwilligen von Don Bosco Volunteers. Die 23 jungen Männer und Frauen werden Anfang September ein Jahr lang weltweit in Don Bosco Einrichtungen als Freiwillige helfen und arbeiten. Wie viel Nähe ist zu viel, wenn ein Kind abends noch kuscheln möchte? Und wie viel Distanz braucht man selber, um sich abzugrenzen von den Schicksalen? Was ist professionelles Verhalten? Zu den Herausforderungen in der Pädagogik kommen die kulturellen Unterschiede. In Lateinamerika ist enger Körperkontakt unter Freunden selbstverständlich, in Indien gilt er in der Öffentlichkeit zwischen Männern und Frauen als unschicklich.

Zum Einstieg haben die Teilnehmer Arbeitsaufträge bekommen und laufen als Besucher eines fiktiven Wochenmarktes durch den Raum. Verena soll jedem Gesprächspartner ungefragt etwas Bewegendes aus ihrem Leben erzählen, Tim hingegen muss sich immer wegdrehen, wenn ihn jemand anspricht. Und Francis legt jedem die Hand auf die Schulter. Nach einer Weile reflektieren sie gemeinsam. Mit jemandem sprechen, der sich permanent abwendet oder auf den Boden schaut – das fühlt sich komisch an. Schnell knüpfen die Volontäre an den Vormittag an. Da haben sie gemeinsam mit Referent Wolfgang Kirchner und vier ehrenamtlichen Trainern über Rollen und Rollenkonflikte gesprochen. In ihrer Erzieherrolle müssen die angehenden Volunteers lernen, wie viel Distanz sie brauchen, um sich durchzusetzen. Ein Widerspruch zu anderen Rollen als große Schwester, Vertraute und Spielkameradin.

Die Trainer berichten von eigenen Erfahrungen. Als Volontär ist man zwischendurch auch mal sehr einsam. Dem eigenen Bedürfnis nach Nähe stehen handfeste Regeln gegenüber. Intime Beziehungen zu Mitarbeitern und Jugendlichen im Projekt sind verboten. „Werde ich nach einem Kuss sofort nach Hause geschickt?“, will Clara wissen. Eine Antwort gibt sich die Gruppe selber, indem sie sich zu verschiedenen Fragen vor oder hinter einer roten Linie positioniert. Und Wolfgang Kirchner fasst zusammen: „In einem Freiwilligendienst lernen sich die jungen Menschen so kennen, wie sie sich noch nie erlebt haben. Wir bereiten sie darauf vor, die Chancen und Risiken von Nähe und Distanz zu kennen, damit sie in ihren vielfältigen Rollen verantwortungsvoll handeln.“


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