Zuhause auf Zeit
Haus der Geborgenheit für Kinder aus unterschiedlichen Kulturen
In der Wohngemeinschaft Jakob in Wien finden Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die aus unterschiedlichen Gründen von ihren Eltern getrennt leben, Sicherheit und Geborgenheit. Getragen wird das Projekt vom Don Bosco Sozialwerk.
veröffentlicht am 22.05.2023
Kinderstimmen sind zu hören. Besteck und Teller klimpern. Im Raum duftet es herrlich nach Shawarma, einer arabischen Spezialität. Sechs Kinder und Jugendliche sitzen rund um einen Tisch und warten auf das Essen – darunter auch Ahmed. Seit einem halben Jahr wohnt der 14-Jährige hier in der Wohngemeinschaft Jakob des Don Bosco Sozialwerks. „Mahlzeit“, sagt er gemeinsam mit den anderen, bevor sie mit dem gemeinsamen Abendessen beginnen.
Die Wohngemeinschaft ist nicht leicht zu finden. Nicht einmal Ortskundige würden sie in diesem Bezirksteil vermuten. Untergebracht ist sie in einem mehrstöckigen Gemeindebau in Wien-Donaustadt. Hier im dritten Stock wohnen derzeit acht Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern sein können. Die meisten sind zwischen 13 und 15 Jahre alt. Für den Pädagogen Daniel*, der die erst seit Juni 2022 bestehende Einrichtung leitet, ist das Abendessen eines der wichtigsten Ereignisse des Tages. Es stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. „Wir kommen dabei jeden Abend zusammen und tauschen uns aus“, erklärt der 25-Jährige. „Aber nicht nur, um zu essen, sondern auch, um das Erlebte zu reflektieren.“
Telefonieren mit Eltern und Geschwistern
Eine Schüssel mit Reis wandert überden Tisch, ein Kind nach dem anderen balanciert mit einem Schöpfer einen Teil auf seinen Teller. Bei den Vorbereitungen machen einige Kinder begeistert mit, sagt Sozialpädagogin Kolsoum, die auch diese Mahlzeit zubereitet hat. Oft kommen auch kalte Platten oder österreichische Spezialitäten auf den Tisch. Abwechslungsreich sollte es immer sein.
Wie viele andere hier hat auch Ahmed in seinem jungen Alter viel erleben und sehen müssen: Hunger, Flucht und Vertreibung aus der Heimat. Die Familie ist in seinem kriegsgeschüttelten Geburtsland geblieben. Nur sein Onkel, den er immer wieder besucht, lebt in Wien. „Alle unsere Kinder haben eine Form von Familie“, stellt Daniel klar, der die jungen Menschen mit seinem achtköpfigen Team rund um die Uhr betreut. „Den Kontakt zu ihr haben sie nicht abgebrochen.“ Beinahe jeden Abend telefonieren sie mit Eltern und Geschwistern über WhatsApp und Skype, erzählen ihnen vom Alltag in ihrer neuen Lebenssituation.
Die Zeit nach den Telefonaten sei oft die schwierigste. Denn die Kinder und Jugendlichen wären am liebsten bei ihren Eltern, berichtet Kolsoum, die sie, wenn sie in solchen Situationen den Tränen nahe sind, an der Hand nimmt, umarmt und tröstet. Der gebürtigen Iranerin fällt es besonders leicht, sich mit den Kindern auszutauschen, da sie Arabisch spricht und versteht. „Wir sind ein Teil des Sozialwerks und eines von vielen Projekten“, betont WG-Leiter Daniel stolz. „Es ist bei uns sehr familiär.“ Am wichtigsten sei für ihn, dass sich die Kinder im Haus wohl und sicher fühlen können, sagt er. Das tue ihnen gut.
Ahmed möchte Fußballer werden
Alle Projekte im Don Bosco Sozialwerk tragen biblische Namen oder Namen von wichtigen Personen aus dem Leben Don Boscos – so auch die WG jenseits der Donau. Sie sollen die Nähe zum Menschen symbolisieren. Die Wohnung ist mehr als 100 Quadratmeter groß. Dreh- und Angelpunkt ist der Wohn- und Essraum, der in der Mitte liegt. Hier befindet sich auch die Küche, wo einmal täglich für die jungen Bewohnerinnen und Bewohner warm gekocht wird. Neben und nach der Küche befinden sich die jeweiligen Zimmer, in denen die Heranwachsenden meist zu zweit und nach Geschlechtern getrennt wohnen. In jedem Zimmer steht ein Stockbett.
„Dort drüben ist mein Zimmer“, sagt Ahmed stolz und zeigt darauf, bevor er ein Glas Limonade nimmt und einen Schluck davon trinkt. Wenn er groß ist, möchte er Profi-Fußballer werden. Das sei sein Traum. Um ihm näher zu kommen, spielt Ahmed jeden Tag mit Gleichaltrigen im Hof der Wohnanlage.
Neben Ahmed sitzt Zahra, die ebenfalls 14 Jahre alt ist. Sie fühle sich sehr wohl hier, berichtet sie mit strahlenden Augen. Erst seit einem Jahr lebt sie in Österreich und ist vor wenigen Monaten in der Wohngemeinschaft eingezogen. „Die Integration in den Alltag findet hier statt“, sagt Daniel, „auch in Austausch mit dem Jugendamt.“ Da jedes Kind eine eigene Biografie hinter sich hat, arbeitet das WG-Team auch mit den Schulen zusammen, damit dort jedes Kind die Betreuung bekommt, die es braucht.
Dienstags ist Kinderparlament
Der Tagesablauf unter der Woche ist klar geregelt: Bevor sich die Kinder und Jugendlichen auf den Weg in die Schule machen, frühstücken sie alle gemeinsam. Um die Mittagszeit kehren sie wieder in die Wohnung zurück, wo es ein Mittagessen gibt. Danach lernen sie mit Praktikantinnen und Praktikanten Deutsch und können in der anschließenden Freizeit ausspannen oder sich austoben. Ab 16 Uhr kümmert sich eine Betreuerin um sie, die mit ihnen lernt, spielt oder bastelt. Jeden Dienstag gibt es in der Wohngemeinschaft auch ein Kinderparlament, bei dem jeder seine Wünsche sagen und mitbestimmen kann. „Damit wollen wir ihnen auf Augenhöhe begegnen“ , hebt Daniel hervor. Das sei ihm und seinem Team besonders wichtig. Um 22 Uhr geht es ins Bett. Manchmal liest ihnen die Betreuerin auch eine Gute-Nacht-Geschichte vor.
„Wir sind ein Haus der Geborgenheit“, erklärt Daniel. Das sei auch notwendig. Denn einige der Kinder und Jugendlichen sind schwer traumatisiert. Die Pädagogen bieten ihnen einen sicheren Platz. Ob sie sich in der neuen Umgebung wohlfühlen, drücken die WG-Mitglieder nicht immer direkt aus. Aber wenn sie sich dem Leiter oder den Betreuerinnen anvertrauen, „spüren wir es“, sagt Daniel. „Wir versuchen durch Beziehungsarbeit, sie dabei zu unterstützen und in den Alltag, so gut es geht, zu integrieren.“
Deutsche Sprache schnell gelernt
Obwohl die Wohngemeinschaft erst seit wenigen Monaten besteht, arbeitet das Team schon jetzt Hand in Hand. „Wir haben schon sehr viel erreicht und wachsen nach und nach zusammen“, strahlt Daniel. Schön sei es für ihn, zu erleben, wie schnell und mit welcher Leichtigkeit die Kinder die deutsche Sprache lernen. Während sie noch vor wenigen Monaten nur wenige Wörter kannten, plaudern sie heute munter darauf los – und das vor allem beim Abendessen, das nun zu Ende geht, erzählt der Sozialpädagoge.
Gemeinsam räumen alle den Tisch ab, sammeln die Teller ein und tragen sie in die Küche. Gleich werden die Kinder ihre Jacken und Schuhe anziehen und die Wohnung verlassen, um sich im Garten auszutoben. „Tschüss“, ruft Ahmed beim Verabschieden allen zu. „Bis später. Wir sehen uns unten.“
Wohnen und wachsen im Don Bosco Sozialwerk
Das Don Bosco Sozialwerk in Wien bietet im Bereich Wohnen und Wachsen minderjährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus verschiedensten Kulturen ein sicheres „Zuhause auf Zeit“. Sie werden rund um die Uhr sozialpädagogisch betreut. Dabei steht das Assistenzprinzip der Pädagogik Don Boscos im Mittelpunkt: Liebe, Güte und Respekt. Konkret bedeutet das, neben der Wertschätzung für ihre persönliche Entwicklung stets ein offenes Ohr für ihre Anliegen und Sorgen zu haben. Mit Erreichen der Volljährigkeit gibt es für jene, die noch Betreuungsbedarf haben, in der sogenannten Nachbetreuung eine altersadäquate Möglichkeit, jeden jungen Menschen so lange zu begleiten, wie es den individuellen Bedürfnissen entspricht.