Projekt-WG
Hilfe beim Start in ein selbstständiges Leben
Mit 16 Jahren kam Boubacar Sall aus Guinea nach Deutschland. Inzwischen macht er eine Ausbildung und schmiedet Zukunftspläne. Unterstützung erhält er durch ein Projekt des Münchener Salesianums.
veröffentlicht am 31.12.2018
Boubacar Sall weiß genau, was er will: seine Ausbildung zum Bankkaufmann abschließen. Dann so bald wie möglich eine Weiterbildung beginnen und den Führerschein machen. Irgendwo außerhalb von München eine bezahlbare Wohnung finden. Und weiter als Bankangestellter in Deutschland arbeiten und leben. Für dieses Ziel arbeitet der 19-Jährige, der im zweiten Ausbildungsjahr zum Verkäufer im Bereich Post- und Bankdienstleistungen ist, hart. Montags geht er in die Berufsschule. Von Dienstag bis Freitag steht er in der Filiale seiner Bank am Augsburger Hauptbahnhof am Schalter. Wenn er Frühschicht hat, bedeutet das Aufstehen um 4.30 Uhr und Rückkehr gegen 18 Uhr. Samstags jobbt er in einem großen Supermarkt an der Kasse.
In seiner Freizeit stehen neben dem Lernen für die Schule Einkaufen, Kochen und Putzen auf dem Programm. Und, wenn Zeit bleibt, Kicken mit Freunden. Der junge Mann lächelt, als er vom Fußballspielen, seinem „liebsten Hobby“, spricht. Überhaupt: Boubacar Sall wirkt gelassen, selbstbewusst und für sein Alter ungewöhnlich zielstrebig und strukturiert. Man hat das Gefühl: Hier hat einer sein Leben in die Hand genommen.
Selbstverständlich ist das alles nicht. Denn Boubacar Sall lebt erst seit dem Sommer 2015 in Deutschland. Als Flüchtling kam er aus dem westafrikanischen Guinea nach München. Aus politischen Gründen floh er aus dem Land, in dem er mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in der Hauptstadt Conakry lebte. Über die Flucht möchte er nicht sprechen. Über das Danach schon: zwei Tage Erstaufnahmeeinrichtung in München, dann Besuch einer Berufsintegrationsklasse. Im Juli 2017 Hauptschulabschluss mit Note 1,6. Zwei Monate später Ausbildungsbeginn in der Postbank in Augsburg. Und Einzug im Münchener Jugendwohnheim Salesianum. Dort war er gelandet, nachdem er im Internet nach Unterkünften für Azubis gesucht hatte. Recht schnell bekam er einen Platz in einer der Jugendwohngruppen und ist jetzt einer von 400 Jugendlichen, die im Haus betreut werden.
Seit Anfang September 2018 ist er außerdem Teilnehmer von „Integration konkret“, einem neuen Projekt der Einrichtung, das jungen Menschen wie Boubacar Sall dabei helfen soll, den Schritt aus der Jugendhilfe in die Selbstständigkeit zu schaffen. „Wir haben festgestellt: Es braucht etwas für diesen Übergang“, erklärt Sozialpä-dagogin Anna-Lena Kahmann, die das Projekt konzipiert hat und begleitet. „Die Idee ist, dass die Jugendlichen viele Dinge ausprobieren können, die alltäglichen und lebenspraktischen Sachen erproben. Aber wenn etwas nicht klappt, fallen sie nicht zurück in die Perspektiv-losigkeit, sondern es ist jemand da, der sie auffängt.“
Gutes Miteinander in der Projekt-WG
Das neue Angebot bietet den Teilnehmern ein Jahr lang sozusagen ein Hochseilklettertraining mit Sicherheitsnetz. Vier junge Männer zwischen 19 und 21 Jahren leben in einer einfach möblierten Wohnung mit vier Zimmern, Küche, Bad und Wohnzimmer in einem etwas abgelegenen Teil des Salesianums. Die jungen Männer, die aus unterschiedlichen Ländern Afrikas stammen, stehen alle in der Ausbildung. Sie haben eigene Haus- und Wohnungsschlüssel, zahlen in einer Art Miete ihren Anteil an den Wohnheimkosten und kümmern sich um den Haushalt. Die Pädagogin unterstützt nur, wenn Bedarf besteht. Zudem überprüft sie den Erfolg der Maßnahmen durch regelmäßige Einzelgespräche, in denen die individuellen Entwicklungen der vier Bewohner unter anderem in den Bereichen Wohnen, Arbeiten, Finanzen, Persönlichkeit und Selbstorganisation betrachtet werden. Die vier verstünden sich blendend, erzählt Anna-Lena Kahmann. Die Projekt-WG sei sehr gut organisiert und der Alltag funktioniere reibungslos. Zudem unterstützten sich die vier gegenseitig mit ihrem jeweiligen Fachwissen und ihren Fähigkeiten.
Boubacar Sall ist glücklich in seinem neuen Zuhause. „Ich habe mir längst gewünscht, dass ich irgendwo wohnen kann, wo ich meine Sachen selber machen kann“, schwärmt er. Vor allem, dass er endlich einkaufen und kochen kann, was er möchte, genießt der junge Mann. Er liebt es, Gerichte aus seiner Heimat zuzubereiten. Mindestens einmal pro Woche steht Reis mit einer Soße aus Manjok, Paprika, Hühner- oder Rindfleisch und speziellen Gewürzen auf dem Speiseplan. Dafür hat der 19-Jährige in einem Laden in der Nähe eigens ein rotes Öl gekauft, das er aus Guinea kennt.
Dass Integration im Münchner Salesianum generell ein wichtiges Thema ist, weiß Benjamin Henn, der pädagogische Leiter der Jugendhilfeangebote der Einrichtung. Seit vor knapp zehn Jahren die erste Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eröffnet wurde und zwei Jahre später die zweite, sei es mehr und mehr zu einer „Selbstverständlichkeit geworden, dass es hier eine große Pluralität an Menschen gibt“, berichtet der Sozialpädagoge. Rassismus sei unter den Jugendlichen, die in der Einrichtung leben, kein großes Thema. Die Gründung der neuen Gruppen – damals ein großer und mutiger Schritt für die Einrichtung – habe „das ganze Haus in den vergangenen Jahren sehr verwandelt“, sagt Henn. Zur Offenheit gegenüber unterschiedlichen Kulturen und Religionen gehört auch, dass beispielsweise die eritreisch-orthodoxen Jugendlichen, die häufig fasten, einen Teil ihres Essensgeldes ausgezahlt bekommen können, um an den Essen in der Gemeinde teilnehmen zu können. Oder dass es normal geworden ist, dass die vielen muslimischen Bewohner im Ramadan abends häufig Besuch bekommen oder selbst unterwegs sind und die üblichen Essenszeiten etwas geändert werden müssen.
Schritt für Schritt zu mehr Verantwortung
Alle Bewohner, egal, ob Blockschüler oder Wohngruppen-bewohner, ob junge Menschen aus Deutschland oder aus anderen Ländern, sollen im Salesianum ein Zuhause, eine Heimat auf Zeit finden, erklärt Benjamin Henn. „Die Jugendlichen sollen hier Ansprechpartner haben, die sie in Krisensituationen und im Alltag unterstützen, die mit ihnen den Alltag verbringen und leben.“ Die Einrichtung sei „kein Familienersatz“, aber rund um die Uhr sei jemand da, auch an Wochenenden und Feiertagen. Ziel des Hauses sei es, in der Tradition des heiligen Johannes Bosco die jungen Menschen auf ihrem Weg zu einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, schrittweise die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Boubacar Sall hat das bereits getan. Und manchmal wagt er sogar, ganz vorsichtig, einen Blick in eine fernere Zukunft. Dann träumt er von seinem Leben in Deutschland. Davon, dass sein Geld für mehr als nur für die Miete reicht. Vielleicht sogar von einer eigenen Familie. Auch, wenn ihm diese Vorstellung im Moment noch schwerfällt. Zu groß seien die Vorbehalte gegenüber Geflüchteten. Zu viele seiner Freunde hätten schon Rassismus erlebt. „Es wäre gut, wenn man von den Leuten in dem Land, in dem man lebt, akzeptiert wird“, sagt Boubacar Sall leise. „Ich will hier später gut integriert sein.“ Seinen Beitrag dazu leistet er.
100 Jahre Don Bosco in München
Seit 1919 die ersten Salesianer Don Boscos nach München kamen und im Jahr 1920 auf das jetzige Gelände im Münchener Stadtteil Haidhausen gezogen sind, ist der Campus Don Bosco stetig gewachsen. Unterschiedliche Einrichtungen und Träger sind hier angesiedelt: das Jugendwohnheim Salesianum, die Caritas Don Bosco Schulen, das Haus für Kinder „Casa Don Bosco“, die Don Bosco Medien GmbH, die Mitbrüdergemeinschaft der Salesianer Don Boscos sowie die Pfarrei St. Wolfgang. Der Campus Don Bosco soll ein Ort der Bildung, Begegnung und des Glaubens sein, an dem Kinder und Jugendliche lernen, spielen und sich entfalten können.