Leben und lernen

Ein Heim für Kinder in der Ukraine

80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegt Lemberg mit seiner malerischen Altstadt. Doch das Leben außerhalb des Zentrums ist hart, besonders für die Kinder. Vor etwa zehn Jahren haben die Salesianer mit dem Jugendamt ein Waisenhaus gegründet.

veröffentlicht am 31.10.2018

Behutsam setzt er einen Fuß vor den anderen. Ein Lächeln umspielt seine Lippen – dafür ist er bekannt. Yegor* wirkt stets gut gelaunt und strahlt eine innere Ruhe aus, die ansteckt. Es ist beeindruckend, wie dieser junge Mann von 22 Jahren bescheiden und ausgeglichen durchs Leben geht – ohne Augenlicht, aber mit viel Zuversicht und Willenskraft. Mit zehn Jahren kommt Yegor ins Kinderheim der Salesianer Don Boscos in Lemberg. Warum er blind ist, ist nicht genau bekannt. „Es gibt zwei Theorien“, erklärt Pater Mychaylo Chaban, der Direktor der Einrichtung. „Die eine ist, dass es die Folge einer Krankheit war. Die andere – und das ist leider nicht unwahrscheinlich –, dass seine Augenlinsen für den Organhandel verkauft wurden.“ Geschichten wie diese schockieren, sind im Kinderheim „Pokrova“ allerdings keine Seltenheit.

65 Jungen im Alter von acht bis 18 Jahren sind hier untergebracht. 35 von ihnen sind Waisen, für die Pater Chaban die gesetzliche Vormundschaft übernommen hat. Bei den restlichen 30 Jungen gibt es zwar noch einen oder beide Elternteile, die sich allerdings aus diversen Gründen nicht um ihre Kinder kümmern können. „Von diesen 30 Jungen interessieren sich gerade einmal fünf bis sechs Eltern für ihre Söhne. Und bei manchen wären wir froh, wenn sie es nicht tun würden“, gibt Pater Chaban offen zu. Er erzählt von einem Jungen, dessen Mutter stark drogenabhängig ist. Der Vater saß im Gefängnis, und jetzt, da er wieder frei ist, besucht er seinen Sohn ab und zu im Kinderheim. „Der Vater hat allerdings immer noch Probleme und schüchtert den Jungen ein. Sein Sohn ist dadurch furchtsam geworden und spricht nur noch wenig.“ Ein Rückschritt in seiner Entwicklung.  

Die meisten Kinder öffnen sich schnell durch die familiäre Atmosphäre im Kinderheim. Etwa drei Monate dauert es, das Vertrauen zu ihnen aufzubauen, weiß Natalia Boiko, die seit zehn Jahren als Erzieherin bei Don Bosco arbeitet. „Wenn ein Kind aus einer problematischen Familie zu uns kommt, muss es sich erst einmal an unseren Tagesablauf gewöhnen. Wir haben auch Psychologen, die die Kinder betreuen. In der Regel fühlen sie sich schnell bei uns sicher.“ So war es auch bei Yegor: „Die Jungs hier und die Erzieherinnen haben mir immer geholfen und mich gut behandelt.“ Der 22-Jährige befindet sich in einer Übergangsphase, der sogenannten Verselbstständigung. Er hat in Lemberg eine eigene Wohnung, muss aber noch lernen, sich in seinem Alltag allein zurechtzufinden. Deswegen übernachtet er manchmal noch im Kinderheim. Bei seinen Freunden, wie er sagt. „Ich bin es gewohnt, viele Leute um mich zu haben. Ich vermisse das Kinderheim und besuche die Jungs hier oft.“

Die Großen sind für die Kleinen da

Dass die Jungen zusammenhalten und sich gegenseitig respektieren, von gelegentlichen Streitigkeiten einmal abgesehen, ist im Kinderheim sofort zu spüren. Die Großen sind für die Kleineren da und haben ein wachsames Auge auf sie – auch beim Spielen. Wie zum Beispiel Andrij*, der draußen geduldig den jüngeren Vadim* auf einem hellblauen Fahrrad über die Wiese schiebt. Vadim muss noch üben, gleichzeitig in die Pedale zu treten und die Balance zu halten. Der Rest der Jungen saust in rasantem Tempo über den Sportplatz, der dringend einer Erneuerung bedürfte. Doch die Kinder umkreisen gekonnt die großen Schlaglöcher und lassen sich nicht von ihnen ausbremsen.

Auch die Salesianer haben sich nicht ausbremsen lassen. Seit zehn Jahren engagieren sie sich für Waisenkinder. Zuerst haben diese mit im Provinzialat gewohnt, dem offiziellen Dienstsitz der Salesianer in Lemberg, wenige Autominuten vom jetzigen Standort des Kinderheimes entfernt. „Die erste Idee damals war es, Straßenkindern für zwei bis drei Wochen ein Dach über dem Kopf zu geben“, erinnert sich Pater Mychaylo Chaban. „Nach und nach entstand allerdings der Wunsch, ein richtiges Heim zu schaffen – mit Wohngruppen im Familienstil. Außerdem kamen immer mehr Kinder dazu und wir benötigten mehr Platz.“ So wurde vor vier Jahren ein neues Haus gebaut – direkt gegenüber der Berufsschule der Salesianer, auf die die Ordensbrüder besonders stolz sind, da es die einzige katholische Berufsschule in der gesamten Ukraine ist. Hier können sich seit bereits 15 Jahren Jugendliche – Mädchen und Jungen – in verschiedenen Berufsfeldern ausbilden lassen, zum Beispiel als Friseur oder Schreiner.
Vor drei Jahren neu hinzugekommen ist der Gastronomiebereich. Die Salesianer haben damit auf einen Trend reagiert. Denn Lemberg ist mit 2,5 Millionen Touristen pro Jahr zu einem beliebten Reiseziel geworden, und die Chancen, in diesem Gewerbe eine vergleichsweise gut bezahlte Stelle zu finden, sind gestiegen. Mehr als die Hälfte der etwa 100 Auszubildenden lernt daher in der Berufsschule Koch, Bedienung oder Barmann. „Wir müssen immer wieder schauen, welche Ausbildung sinnvoll ist und was den Jugendlichen gefällt“, erklärt Pater Chaban. Früher habe es beispielsweise auch eine Ausbildung zur Schneiderin gegeben, aber das wolle heute keiner mehr lernen. Die Schneiderei sei deswegen jetzt extern vermietet. Stattdessen wolle man bald eine Ausbildung zum Automechaniker anbieten. Die Baustelle neben dem Kinderheim zeigt, dass dieser Plan längst kein Wunschdenken mehr ist, sondern bereits in die Tat umgesetzt wird. Unten soll eine Autowerkstatt entstehen, oben eine Sporthalle für die Kinder und Jugendlichen.

Für Pater Mychaylo Chaban also genug zu tun. Sein Handy meldet sich in regelmäßigen Abständen und erinnert ihn an seine Pflichten – Entscheidungen müssen gefällt, Absprachen getroffen werden. Die Jugendlichen verliert der 42-Jährige bei alldem aber nicht aus dem Blick. Auch nach einem anstrengenden Arbeitstag spielt er abends noch zwei Stunden Fußball mit ihnen oder schaut in den Wohngruppen vorbei. Die älteren Jungen lümmeln im Aufenthaltsraum auf bunten Sitzsäcken vor einem großen TV-Flachbildschirm – ein Geschenk der Polizei aus einer Drogenrazzia. Ein Stockwerk tiefer essen die Jüngeren gemeinsam Abendbrot, Pater Chaban setzt sich zu ihnen. Sie freuen sich sichtlich über diese Zuwendung, die sie zu Hause nie erfahren haben. Pater Chaban kennt die Geschichte jedes Einzelnen: „Da ist zum Beispiel Oleksander*. Da seine Eltern im Wald ungestört eine Party feiern wollten, banden sie ihren Sohn an einem Baum fest und vergaßen ihn anschließend, sodass er zwei Nächte allein im Wald verbringen musste.“ Pater Chaban schüttelt kurz seinen Kopf und fährt fort. „Oder der neunjährige Ilya* und sein Bruder. Sie werden bald neu bei uns aufgenommen. Ihre Mutter ist psychisch krank, und sie mussten allein für sich sorgen. Sie sind durch die Stadt gezogen und haben Flaschen gesammelt, um zu überleben.“

Doch das ist die Vergangenheit der Kinder. Die Salesianer Don Boscos gestalten ihre Gegenwart und geben ihnen eine Zukunft. Yegor ist kurz davor, auf eigenen Beinen zu stehen. Er ist mit seinem Leben zufrieden: „Lange Zeit wusste ich nicht, was ich machen soll. Jetzt mache ich eine Ausbildung zum Masseur – das mag ich, das macht mir richtig Spaß.“

* Namen der Kinder von der Redaktion geändert

Multimedia-Reportage des Don Bosco Magazins aus dem Kinderheim der Salesianer Don Boscos in Lemberg

Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern in der Ukraine bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.

Das Kinderheim der Salesianer in Lemberg

Im Kinderheim der Salesianer Don Boscos wohnen neben den 65 Waisen auch 70 Studenten, die sich ein Zimmer in Lemberg sonst nicht leisten könnten. In der Berufsschule sind darüber hinaus etwa 15 junge Frauen über 18 Jahren untergebracht. Mit einer eigenen Bäckerei im Keller des Kinderheims versuchen die Salesianer, einige ihrer Ausgaben zu refinanzieren. So werden beispielsweise jeden Sonntag in den salesianischen Pfarreien der Stadt an die 1.000 Brotlaibe verkauft. Außerdem liefert die Küche das Mittagessen für eine große -IT-Firma – mit 200 bis 300 Portionen pro Tag.


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