Nothilfe
Wie Don Bosco in Polen traumatisierte Kinder aus der Ukraine unterstützt
Mehr als 600 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben in Räumlichkeiten der Salesianer Don Boscos in Polen Zuflucht gefunden. Was die Geflüchteten am dringendsten brauchen und wie Don Bosco hilft, erklärt Salesianerpater Krzysztof Grzendziński.
veröffentlicht am 27.05.2022
Wie geht es den Menschen, die als Flüchtlinge nach Polen gekommen sind? Was brauchen Sie am dringendsten?
Das ist ganz unterschiedlich. Man muss unterscheiden zwischen Bedürfnissen, die eine direkte Folge der Flucht aus der Ukraine sind, und anderen, die aktuell entstehen, wenn die Geflüchteten dabei sind, ihr Leben in Polen zu organisieren. Das wichtigste Bedürfnis war natürlich die Bereitstellung einer sicheren Unterkunft sowie von Nahrung, Kleidung und Hygieneartikeln. Jetzt geht es um die Unterstützung bei der Arbeitssuche, die Beteiligung an sozialen Aktivitäten, die Integration in das lokale Umfeld und die Ermutigung, die angebotenen Aktivitäten für Kinder zu nutzen. Es kommt auch vor, dass die Geflüchteten darum bitten, dass wir ihren Rücktransport in die Ukraine organisieren.
Ihre Bedürfnisse beziehen sich auf das Leben „hier und jetzt“ und konzentrieren sich auf die Sicherung der grundlegenden Lebensfunktionen sowie auf Emotionen und psychologische Probleme. Zur Zeit, nach drei Monaten Krieg, wünschen sich die Menschen, die in Sammelunterkünften untergebracht sind, vor allem einen Ort, an dem sie ein einigermaßen normales Familienleben führen können. Wir konzentrieren uns auf jeden Einzelnen und müssen dabei angesichts der sich ständig verändernden Situation flexibel sein.
Wie unterscheiden sich der Gesundheitszustand und die allgemeine Lage der Flüchtlinge, die zu Beginn des Krieges eintrafen, von der Situation derer, die jetzt kommen?
Diejenigen, die in der Anfangsphase des Krieges nach Polen gekommen sind, haben sich bereits an die neue Umgebung angepasst. Einige von ihnen haben Arbeit gefunden, die Kinder werden das Schuljahr mit polnischen Gleichaltrigen beenden. Sie sind in das Leben der Gemeinschaft, in der sie untergekommen sind, eingebunden und nehmen aktiv am Alltagsleben teil. Natürlich vergessen sie nicht einen Augenblick, warum sie unter einem fremden Dach leben, aber sie wissen, dass sie mit Offenheit empfangen werden, dass sie in Sicherheit sind und weit weg vom Krieg. Sie vermissen und sorgen sich ständig um ihre Angehörigen – Ehemänner, Brüder und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Deshalb versuchen wir, ihre Zeit mit verschiedenen Aktivitäten zu füllen, um sie von den ständigen Gedanken an das, was in ihrem Heimatland geschieht, abzulenken.
Diejenigen, die jetzt nach Polen kommen, sind in der überwiegenden Mehrheit direkt von den Kriegsereignissen betroffen. Sie sind in einem viel schlechteren psychischen Zustand, mussten sich oft vor Bomben verstecken, haben geliebte Menschen verloren, haben mit eigenen Augen die Zerstörung, den Schmerz und das Leid gesehen, die der Krieg mit sich bringt. Neben den grundlegenden Dingen wie einem Dach über dem Kopf oder Nahrung brauchen sie vor allem ein Gefühl der Sicherheit und des Friedens. Um das Trauma, das sie durch die Kämpfe in der Ukraine erlitten haben, zu bewältigen, benötigen sie psychologische oder therapeutische Betreuung, die sie im Rahmen der von der Salesianergemeinschaft angebotenen Unterstützung in Anspruch nehmen können.
Die Angebote werden in ukrainischer Sprache über die verfügbaren Kommunikationsmittel bekannt gemacht, insbesondere über die sozialen Medien der Salesianer, die soziale Projekte mit einem Schwerpunkt auf psychologischer, therapeutischer und rechtlicher Unterstützung durchführen. Allerdings ist das Interesse an Beratungen und Fachkonsultationen bei den Geflüchteten begrenzt. Das hat zum Teil kulturelle Gründe, es hat aber auch mit dem Eingewöhnungsprozess in der neuen Gemeinschaft zu tun und damit, dass die Menschen weniger offen sind für eine Unterstützung, die über die Grundbedürfnisse hinausgeht.
Deshalb sind unsere Maßnahmen indirekt, wir wollen den Menschen vor allem helfen, aus der Gedankenspirale auszubrechen. Das beste Beispiel dafür ist die Arbeit unserer Oratorien. Dort können Kinder und Jugendliche an kulturellen und sportlichen Aktivitäten teilnehmen, die polnische Sprache lernen oder an einem Unterricht teilnehmen, der das Lernen an polnischen Schulen unterstützt. In den Oratorien beobachten wir, dass eine Gruppe von Gleichaltrigen ein guter Ort ist, um Beziehungen aufzubauen, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und den durch den Krieg verlorenen Optimismus der Kinder zu wecken. Auch Zirkuspädagogik und Reittherapie gehören zu unseren Angeboten. Diese Methoden sind sehr erfolgreich. Die Kinder können sich dabei gut integrieren. Sie müssen die Sprache nicht perfekt beherrschen.
Sind viele der Menschen – Erwachsene und Kinder – traumatisiert?
Nach Angaben der WHO sind unter den in Polen untergebrachten Flüchtlingen etwa 500.000 Menschen, die aufgrund der Kriegsereignisse psychologische Hilfe benötigen. Bis zu 30.000 von ihnen haben schwere psychische Probleme. Diese Personen werden im Rahmen von Regierungsprogrammen unterstützt. Wir bieten Flüchtlingen aus der Ukraine die Möglichkeit, völlig kostenlos psychologische, psychotherapeutische und rechtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zu diesem Zweck nutzen wir in unseren fünf funktionierenden psychologischen und rechtlichen Unterstützungszentren, die von der Provinz Warschau in in Łódź, Różanymstok, Ełk, Tolkmicko und Warschau betrieben werden, die Hilfe von ehrenamtlichen Übersetzern, die die Beratungen unterstützen. Die Flüchtlinge profitieren von der Arbeit der Zentren vor allem im Bereich der Rechtsberatung. Darüber hinaus gibt es in allen Oratorien, in denen Kurse für Menschen aus der Ukraine organisiert werden, fest angestellte Psychologen. Wir planen zusätzliche Aktivitäten, mit denen wir den Prozess der Kriegsbewältigung unterstützen können, indem wir die Kompetenzen und Qualifikationen von Personen fördern, die in direktem Kontakt mit Flüchtlingsgruppen stehen, zum Beispiel im schulischen und vorschulischen Umfeld.
Ein großes Problem und eine große Herausforderung sind die Übergangsunterkünfte, Sammelunterkünfte, in denen etwa 1.000 Menschen in einem Raum untergebracht sind. Ein Bett neben dem anderen, keine Intimität, keine Möglichkeit, sich einmal zurückzuziehen. Das führt dazu, dass sich die Einzelnen innerlich noch mehr isolieren. Sie blockieren ihre Gefühle, verschließen sich voreinander. In derartigen Hilfsangeboten müssen wir uns noch stärker engagieren, um vor allem die Kinder an solchen Orten zu erreichen. Wir wollen Aktivitäten für sie organisieren, sie geistig auffangen und die destruktive Denkweise durchbrechen.
Die orthodoxen und griechisch-katholischen Flüchtlinge suchen seelsorgerische Betreuung und Zugang zum sakramentalen Leben. Es geht dabei um eine spirituelle und psychologische Unterstützung, denn sie hilft den Menschen, ihre Ängste und ihr Trauma Gott anzuvertrauen und die Hoffnung des Glaubens zu bewahren. Wir stellen unsere Kirchen oder Kapellen für griechisch-katholische Priester zur Verfügung, damit sie die Liturgie für die Gläubigen feiern können.
Wie können Sie und Ihre Mitarbeiter traumatisierten Menschen helfen?
Zunächst einmal, indem wir bei ihnen sind, ihnen das Gefühl von Sicherheit geben, zuhören und beobachten. Das gilt vor allem bei Kindern, die meist nicht in der Lage sind, ihre Gefühle und Ängste in Worte zu fassen. Wir müssen ihnen das Vertrauen geben, dass ihnen bei uns nichts droht, und gleichzeitig die Symptome erkennen, die darauf hinweisen, dass jemand einen Psychotherapeuten oder Psychologen braucht. Wenn wir einen solchen Bedarf sehen, verweisen wir die Person an einen der mit uns zusammenarbeitenden Spezialisten.
Ein großer Teil unserer Kollegen hat keine Ausbildung oder Erfahrung in der Psychologie. Aber alle, auch die jungen Leute, die direkt mit Flüchtlingen arbeiten, sind für bestimmte Situationen und Verhaltensweisen sensibilisiert. Wir bringen ihnen bei, wie man sich in bestimmten Fällen verhalten soll. In schwierigen Situationen denken wir immer daran, dass wir, auch wenn uns manche Verhaltensweisen oder Entscheidungen von Flüchtlingen unverständlich oder unangemessen erscheinen, Verständnis und Einfühlungsvermögen zeigen, zuhören und helfen sollten, so gut wir können.
Extreme Fälle gibt es nur wenige. Meist sind es Momente der Traurigkeit, der Wunsch, nach Hause zurückzukehren oder Ähnliches. Wir sind uns bewusst, dass es in manchen Fällen ausreicht, dass die Menschen aktiv bleiben, eine Arbeit finden, um diese schwierigeren Momente zu bewältigen. Deshalb versuchen wir, dafür zu sorgen, dass jeder, sowohl Kinder als auch Erwachsene, etwas „zu tun“ hat. Die Oratorien sind von morgens bis abends geöffnet, die Animateure organisieren Aktivitäten, und wir beziehen unsere Gäste auch in das Alltagsleben in den Gemeinschaften ein. All dies, damit sie sich von ihren Gedanken lösen können, die oft in Richtung des Erlebten, des andauernden Krieges und der Menschen, die in der Ukraine geblieben sind, abschweifen.
Arbeiten Sie mit professionellen Psychologen zusammen, die sich mit schwierigen Fällen befassen und auch anderen Mitarbeitenden sagen können, wie sie sich in problematischen Situationen verhalten sollten?
In jedem der psychologischen und rechtlichen Unterstützungszentren gibt es Psychologen mit Erfahrung in der Traumatherapie und im Umgang mit besonders schwierigen Situationen. Als Träger von Schulen und Bildungszentren arbeiten wir im Rahmen ihrer Tätigkeit mit vielen Spezialisten zusammen. Unserer Meinung nach ist dies jedoch nicht ausreichend. Die Zahl der Flüchtlinge ist so groß und ihre Verteilung in Polen so weitreichend, dass wir sie mit der Hilfe, die in den Schulen angeboten wird, erreichen müssen. Deshalb konzentrieren sich unsere Aktivitäten auch auf die Umsetzung eines Pilotprogramms für Erzieher und Lehrer, die mit Flüchtlingen arbeiten. Wir wollen sie mit Kompetenzen und Instrumenten ausstatten, um psychologische „Erste Hilfe“ zu leisten. Nur so können wir die Kinder und Jugendlichen erreichen, die wirklich Hilfe brauchen. Denn wir können nicht erwarten, dass sie uns kommen.
Wie klappt es mit der Kommunikation? Arbeiten Sie mit Übersetzern zusammen?
Am Anfang gab es einige Momente, in denen die Kommunikation mit unseren Gästen ziemlich schwierig war. Wir mussten das Übersetzungsprogramm auf dem Mobiltelefon nutzen und uns manche Nachrichten mehrmals gegenseitig wiederholen. Jetzt gibt es in jeder Einrichtungen jemanden, der Ukrainisch und Polnisch spricht, und wir selbst haben begonnen, uns besser verständlich zu machen. Wir sprechen langsamer, kennen einige Wörter in der anderen Sprache und vor allem kennen wir uns besser.
Als Teil der Arbeit der gesamten Provinz führen wir viele Aktivitäten durch, die in den sozialen Medien sichtbar sind. Dazu gehören auch unsere Freiwilligenprogramme. Seit dem Ausbruch des Krieges haben wir viel Hilfe bei Übersetzungen bekommen. Bis heute bewerben sich Menschen, die kostenlose Übersetzungen aus der Ukraine anbieten, auf unseren Portalen. Da sie sich aus verschiedenen Städten Polens melden, nehmen wir ihre Unterstützung gerne in Anspruch, persönlich oder per Telefon. Wenn es um die Arbeit von Psychologen geht, sind Freiwillige in psychologischen und therapeutischen Hilfszentren präsent, die bei Bedarf Gespräche übersetzen.
Hilfe für ukrainische Flüchtlinge bei Don Bosco in Polen
Seit dem Beginn des Krieges haben die Salesianer Don Boscos in Polen ihre Herzen und Häuser für schutzsuchende Ukrainerinnen und Ukrainer geöffnet. Der Orden beherbergt mehr als 600 Flüchtlinge in seinen Räumlichkeiten. Die Oratorien sind täglich geöffnet, um Kinder und ihre Mütter aufzunehmen und ihnen den ganzen Tag über Aktivitäten und einen sicheren Raum zu bieten.
Gemeinsam mit der Don Bosco Familie in der ganzen Welt unterstützen die Salesianer die Geflüchteten in Polen und die im Land gebliebenen Menschen, indem sie Grundnahrungsmittel, Hilfsgüter und medizinische Versorgung zur Verfügung stellen. Sie stehen in Kontakt mit Salesianergemeinschaften an verschiedenen Orten in der Ukraine und versuchen, auf die Bedürfnisse der Menschen schnellstmöglich zu reagieren.