Glauben

Schläft Gott nie? – Über die religiöse Entwicklung von Kindern

Ob und wie Menschen glauben, hängt stark von Erfahrungen und Prägungen aus ihrer frühen Kindheit ab. Wie sich Kinder in religiöser Hinsicht entwickeln, beschreibt der Theologe und Erzieher Christian Huber.

veröffentlicht am 19.10.2022

Dass Kinder etwa ab dem sechsten Lebensmonat zahnen, wissen wir. Auch, dass sich das Verständnis von Unendlichkeit erst im Grundschulalter einstellt, ist der einen oder dem anderen bekannt. Selbstverständlich haben wir auch schon davon gehört, dass die kindliche Phantasie Entwicklungsphasen unterworfen ist. Dass es aber auch in der Religiosität Entwicklung gibt, ist für viele Menschen etwas völlig Neues.

Immer wieder hört man von der These, dass Religion etwas ist, das Kindern von außen vermittelt wird. Damit einhergehend lautet die Theorie: Wenn Kindern also nichts Religiöses zugemutet wird, könnten sich diese „frei“ entwickeln und sich dann später selbst für eine Religion entscheiden – oder eben nicht. Besonders im Zusammenhang mit der Frage, ob man kleine Kinder taufen lassen soll, wird dieses vermeintliche Argument häufig angeführt.

Vier Phasen der religiösen Entwicklung

Meiner Ansicht nach ist es nicht möglich, ohne jede – nennen wir es religiöse Konfrontation – aufzuwachsen. Schon allein die bevorstehenden Advents- und Weihnachtsmärkte können allerhand Fragen aufwerfen.

Kinder entwickeln sich, neben vielem anderen, auch in religiöser Hinsicht. Auch dieser Entwicklungsbereich muss begleitet und unterstützt werden. Hier beginnt die Aufgabe der Religionspädagogik, eines Fachs, das auch Bestandteil des Lehrplans beispielsweise an Fachakademien für Sozialpädagogik ist. Eben weil die religiöse Entwicklung auch Teil der Entwicklung von Kindern ist, sein darf und sein soll.

Der emeritierte Professor für Religionspädagogik Albert Biesinger beispielsweise unterteilt die religiöse Entwicklung von Kindern grob in vier Phasen: Grundvertrauen in der frühen Kindheit, Ausformung bewusster Gottesbilder etwa ab dem vierten Lebensjahr, Ausformung von Weltbildern sowie Glaube und Naturwissenschaft.

Gefühle wie Angst, Hoffnung, Geborgenheit

Alle diese Phasen sind geprägt und werden mitbestimmt durch bestimmte Erfahrungen, die Kinder vom Beginn ihres Lebens an machen, von Gefühlen wie Angst, Hoffnung, sich verloren fühlen, Geborgenheit. Es sind prägende Erfahrungen, an die sich manche Menschen bis ins hohe Alter erinnern. Diese Erfahrungen können wir natürlich nicht als „nur“ religiös bezeichnen. Es ist vielmehr Alltägliches, das jedes Leben mit sich bringt. Dennoch ist auch bekannt, dass gerade negative Erfahrungen im Bereich des Vertrauens oder des Vertrauensmissbrauchs äußerst prägend sein können – was dann sehr wohl Einfluss auf die Fähigkeit zu glauben hat.

Vereinfacht gesagt: Wenn es mir schon schwerfällt, einem Menschen, den ich täglich sehe, mit dem ich sprechen, den ich berühren kann, wie viel schwerer wird es dann sein, einem Gott zu vertrauen, den ich mit bloßen Augen noch nicht einmal sehen kann?

Kinder haben oft noch dieses Urvertrauen – in Menschen, aber auch in Gott. Manchmal ist es wirklich rührend, wenn Kinder dieses Vertrauen in Gott mit Worten zum Ausdruck bringen. Etwa im Zusammenhang mit biblischen Erzählungen oder religiösen Festen wie zum Beispiel Sankt Martin. Die Geschichte vom Schuster Martin, nach einer Erzählung von Leo Tolstoi, ist in unserer Kita oft die Einleitung zu wunderschönen Gesprächen mit den Kindern über Vertrauen und Gott.

Gott als lächelndes Wesen oder finstere Gestalt

Ungefähr ab dem vierten Lebensjahr beginnen Kinder damit, bewusste Gottesbilder für sich auszuformen und zu malen. Ich finde das wahnsinnig spannend, denn hier zeigt sich oft die ganze Bandbreite, vom lächelnden Wesen in hellen Farben am oberen Rand des Blattes, vielleicht zwei Zentimeter groß, bis hin zur finster wirkenden Gestalt in dunklen Farbtönen, die ein Viertel des Blattes einnimmt. Welche Erfahrungen und Gedanken mögen dahinterstecken?

Es ist übrigens ratsam, hier nicht zu viel zu interpretieren. Nicht immer bedeutet ein schwarzes Bild, dass ein Kind kurz davor ist, depressiv zu werden. Trotzdem ist es wahnsinnig interessant, die Assoziationen der Kinder zu erfahren, wenn sie diese mitteilen möchten. Oft sind es Eigenschaften der Eltern, die in Gott hineinprojiziert werden, natürlich gepaart mit viel Phantasie und offenen Fragen: Wie kann Gott eigentlich allen zugleich zuhören? Kann er alle Sprachen? Schläft er nie?

Kinder erschaffen sich ein eigenes Weltbild

Rund um das Einschulungsalter beginnen Kinder damit, ein eigenes Weltbild zu erschaffen. Klar, die Menschen und Tiere leben auf der Erde, aber über der Erde ist der Himmel, und es überrascht wenig, hier wohnt Gott. Manchmal gibt es auch schon andere Planeten, denen Gott, wenn er denn auf einem Kinderbild vorkommt, trotzdem in irgendeiner Form übergeordnet ist. Mit zunehmendem naturwissenschaftlichem Wissen wird die Vorstellung von Gott, der ein Reich im Himmel hat, natürlich immer schwieriger. Schließlich befinden sich im Weltraum keine Wohnungen, warum ist dann in der Bibel von Wohnungen im Reich Gottes die Rede? Die religiöse Entwicklung ist hier natürlich nicht abgeschlossen, manche Menschen würden sagen, sie geht jetzt erst richtig los. Ich teile diese Ansicht nicht, habe aber auch keinen Zweifel daran, dass mit zunehmendem Alter und Wissensstand die religiöse Entwicklung von Menschen neue Ebenen erreichen kann.

Wie es im Jugendalter weitergeht, hängt von vielen Faktoren ab. Viele Jugendliche glauben an keinen personalen Gott, sondern vielmehr an eine Art „Macht“, die auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig ist. Andere glauben weiter an einen personalen Gott, wie ihn Christentum, Judentum und Islam kennen. Wieder andere dagegen legen, wie wir wissen, ihren Glauben ab. Doch auch das kann „nur“ eine Phase der religiösen Entwicklung sein.


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