Auszeit

Wie Kinder zur Ruhe kommen

Alle Menschen brauchen ab und zu Zeit für sich. Auch Kinder. Erzieher Christian Huber weiß, was den Kleinen Stress macht – und was ihnen hilft, ruhig zu werden und stille Momente zu genießen.

veröffentlicht am 29.07.2022

Der Sommer ist da, das Schul- oder Kitajahr ist vorbei. Der Urlaub hat begonnen oder steht kurz bevor. Jetzt ist Erholung angesagt. Der Stress von Arbeit, Schule oder Kita ist für ein paar Wochen vergessen.

Ruhe – die brauchen wir alle. Und das eigentlich nicht nur während der Ferien oder während des Urlaubs. Ruhe ist etwas, wonach wir uns immer wieder sehnen. Allzu oft, wenn der Terminkalender immer voller wird, ist das mit der Ruhe aber gar nicht so einfach.

Ein schlauer Kopf hat einmal gesagt: „Gib dir jeden Tag eine Stunde Zeit zur Stille. Außer wenn du viel zu tun hast. Dann gib dir zwei.“ Wenn ich nun fragen würde, aus welcher Zeit dieses Zitat wohl stammt, dann wären sich bestimmt viele Menschen darüber einig, dass es sehr aktuell sein muss. In Wahrheit stammt dieses Zitat vom Heiligen Franz von Sales, einem der Lieblingsheiligen von Don Bosco, nach dem er auch seine Ordensgemeinschaft, die Salesianer Don Boscos, benannt hat. Franz von Sales lebte um 1600. Obwohl dieser Ratschlag also mehrere hundert Jahre alt ist, ist er immer noch sehr aktuell. Ob die Handlungsempfehlung des Heiligen zu seinen Lebzeiten einfacher umzusetzen war als in unserer heutigen Zeit, kann ich nicht sagen. Für uns ist es jedenfalls schwierig bis nahezu unmöglich, ein solches Ideal zu leben.

Ruhe muss nicht Stille bedeuten

Ganz gleich ob im Urlaub oder im Alltag, es stellt sich die Frage: Was ist Ruhe überhaupt? Ist Ruhe gleichbedeutend mit Stille? Für viele Menschen kann das so sein. Andere wiederum empfinden Stille als belastend. Zur Ruhe kommen muss nicht Stille bedeuten. Ein Konzert kann ein wunderbarer Ort sein, um den Alltag hinter sich zu lassen und sprichwörtlich zur Ruhe zu komme – auch wenn keine Stille herrscht. Ein Strandspaziergang und das Beobachten des Sonnenuntergangs sind Assoziationen, die vielen von uns beim Begriff Ruhe schnell in den Sinn kommen. Hier kann Stille herrschen, muss aber nicht.

Für Kinder können Traum- oder Phantasiereisen eine wirkliche Quelle der Ruhe sein. Was mir hier wichtig erscheint: Auch Kinder brauchen Ruhe, oftmals mehr, als wir es uns vorstellen können und vermuten würden. Vielen Kindern kann man es während eines solchen Angebots in der Kita regelrecht ansehen, wie sehr sie die ruhige Atmosphäre während einer solchen „Reise“ genießen. Für ein paar Minuten weit weg sein, alles hinter sich lassen. Als Schmetterling über eine blühende Wiese fliegen, oder als Abenteurer mit einem Schiff neues Land entdecken. Vielleicht haben Sie noch ganz andere Ideen. Auch kindgerechte Meditationen können helfen, zur Ruhe zu kommen. Um das Martinsfest herum bietet sich beispielsweise eine Meditation zum Thema Licht sehr gut an: ein dunkler Raum, der langsam – Teelicht für Teelicht – erhellt wird. In dieser gemütlichen und ruhigen Atmosphäre entdecken die Kinder, dass Licht nicht weniger wird, wenn man es teilt, sondern den Raum heller und heller macht. Die ruhige Musik dazu lässt nicht nur die Kinder entspannen.

Doch warum brauchen Kinder eigentlich auch schon Ruhe? Schließlich sind sie mit den Problemen und Sorgen des Alltags noch nicht belastet, müssen sich nicht fragen, wie sie beispielsweise die Energiekosten noch begleichen sollen. Das ist wahr, wahr ist aber auch: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Auch in ihrem Alltag gibt es Dinge, die sie bewegen und Stress für sie bedeuten. Zwar nicht die Sorge um die Energiekosten, aber durchaus die Sorge ihrer Eltern um die Energiekosten, um bei diesem Beispiel zu bleiben. Kinder nehmen sehr wohl die Stimmung ihrer Eltern und ihres Umfelds wahr. Viele Kinder saugen Stimmungen regelrecht auf, wie ein Schwamm. Das Problem ist: Oftmals kennen Kinder noch keine Strategien, wie sie den Schwamm wieder auswinden können.

Musik hören oder ein Spaziergang am Wasser

Und nicht nur derart konkrete Problemlagen stressen unsere Kinder. Leistungsdruck in der Schule, damit verbundener Druck und Ängste zuhause. Selbst noch kleinere Kinder sind bereits Stress ausgesetzt. Sprachbarrieren und Verständigungsprobleme. Eine ungünstige Bring-Situation in der Kita. Gestresste Eltern, denen klar ist, dass sie heute zu spät zur Arbeit kommen werden, sind nicht die personifizierte Geduld. Das ist absolut nachvollziehbar, aber doch eine enorme Stresssituation für Kinder. Dann schlicht und ergreifend auch der Alltag: Rund 25 Kinder in einer Regelgruppe, Lärm und zahlreiche andere Eindrücke einen halben oder auch ganzen Tag lang. Ein Programm wird ja auch noch geboten.

Kinder sind zwar keine kleinen Erwachsenen, aber sie sind in ihrer je eigenen Welt Stressfaktoren ausgesetzt, die wir ernstnehmen müssen. Und erlauben Sie mir, wenn ich das auch kurz sage: Während wir Erwachsenen zuhause bleiben können, wenn wir uns nicht gut fühlen, landen Kinder, die nicht fit sind, oftmals trotzdem in der Kita. Keine schöne Vorstellung, oder?

Wir alle brauchen Momente der Ruhe. Wie sie genau aussehen, hängt vom jeweiligen Menschen ab. Haben Sie schon herausgefunden, was Sie ruhig werden lässt? Stille? Musik? Ein Spaziergang im Wald oder am Wasser? Lesen? Gönnen Sie sich ab und zu einen Moment der Ruhe, vielleicht sogar – um wieder mit Franz von Sales zu schließen – in einer der Zeiten, in denen es völlig unmöglich erscheint. Vielleicht erleben Sie oder auch Ihre Kinder dadurch eine echte Überraschung.


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