Pssst!
Raum der Stille: Wie Kinder im lauten Schulalltag zur Ruhe kommen können
In der Schule ist kaum Platz für Stille. Bedauerlich, findet Religionslehrerin Janina Stenzel aus Lüneburg. Sie will Kindern einen Raum eröffnen, um achtsam die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und erste Erfahrungen mit Spiritualität zu sammeln.
veröffentlicht am 08.11.2024
Seit 2012 gibt es an der St.-Ursula-Schule in Lüneburg einen Raum der Stille. Sie haben ihn damals mitgeplant. Wie kam es zu der Idee?
Der Wunsch, einen solchen Ort in der Schule zu schaffen, war schon lange da. Ich hatte viel mit Meditation und Stille ausprobiert und habe versucht, das in den Unterricht einzubinden. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass ich als Lehrerin und Autoritätsperson Stille-Übungen nicht verordnen kann. Das ist dann keine echte Stille – und Kinder, die noch nie eine Erfahrung der Stille gemacht haben, sind einfach zu stark abgelenkt, wenn solche Übungen am Platz im normalen Unterrichtsraum angeleitet werden. Als die Schule abgerissen und neu gebaut werden musste, entstand dann die Idee eines eigenen Raumes.
Wie kann man sich diesen Raum der Stille vorstellen? Was kennzeichnet ihn?
Zuerst einmal liegt er sehr gut – nämlich etwas abseits im Gebäude und nicht mittendrin zwischen den anderen Nutzräumen. Man muss ihn wirklich aufsuchen. Der Raum an sich ist sehr einfach gehalten. Er ist hell und besitzt kaum Gegenstände außer zwei großen Zimmerpflanzen und einem Quellstein, der vor sich hinplätschert, wenn man ihn einschaltet. Außerdem gibt es noch Matten, auf die die Kinder sich legen können. Wir haben auch nur ganz wenige dezente religiöse Impulse im Raum, die ein wenig versteckt sind. Zum Beispiel ist das Parkett so gelegt, dass genau in der Mitte des Bodens ein Kreuz entsteht. Ansonsten kennzeichnet den Raum vor allem, dass es einfach still in ihm ist.
Ist der Raum nur für die Schülerinnen und Schüler oder auch für die Lehrkräfte gedacht?
Gedacht ist er für alle, aber genutzt wird er vor allem von den Schülerinnen und Schülern. Die Kolleginnen und Kollegen wollen in der Pause eher Kaffee trinken und miteinander plaudern oder müssen sich notwendig organisatorisch absprechen.
Für die Schülerinnen und Schüler werden viermal in der Woche in der großen Pause angeleitete Stille-Übungen angeboten. Wie laufen diese ab?
Zuerst ziehen die Kinder ihre Hausschuhe aus und stellen sie ganz ordentlich in einer Reihe vor den Raum. Im Raum lege ich sehr viel Wert darauf, dass sich die Kinder nicht hektisch bewegen oder laut reden. Jedes Kind nimmt sich eine Matte – und wenn es kalt ist, eine Decke – und legt sich so hin, dass genügend Abstand zum nächsten Kind besteht. Das ist wichtig, um zur Ruhe kommen zu können. Wenn sich alle Kinder ihren Platz eingerichtet haben, erkläre ich ihnen, dass wir jetzt gemeinsam in die Stille eintauchen und ich ihnen ein wenig helfen werde, in diese Stille zu finden.
Wenn kleinere Kinder dabei sind, beginne ich mit Übungen der An- und Entspannung, damit sie den Unterschied wahrnehmen können. Sie rollen sich beispielsweise zu einer kleinen Kugel, strecken sich aus, halten die Luft an. Wenn sie den Entspannungszustand einmal bewusst gespürt haben, liegen sie ganz anders auf ihrer Matte. Als nächstes lade ich die Kinder ein, die Augen zu schließen und sich auf die leise Musik im Hintergrund oder das Brunnengeräusch zu konzentrieren. Es ist wichtig, seine Umwelt wahrzunehmen – welche Geräusche höre ich von der Schule, welche von der Stadt, wo höre ich die Stille in mir.
Manchmal merke ich, dass ein Kind damit überfordert ist, zappelt oder versucht, mit einem anderen Kind Augenkontakt aufzunehmen. Ich tippe das Kind dann an und sage, dass es heute lieber aus dem Raum der Stille hinausgehen und es ein anderes Mal wieder versuchen soll. Es gibt Kinder, die können sich erst auf die Stille einlassen, nachdem sie fünf- oder sechsmal da waren. Die brauchen einfach diese Zeit, um das kennenzulernen.
Was sollen die Kinder in dieser Zeit erfahren und erleben? Was ist das Ziel der Stille-Übungen?
Unabhängig vom Alter erlebt jeder Mensch Stille anders. Mir ist wichtig, den Raum für diese persönliche Erfahrung zu öffnen. Die Kinder sollen im Raum der Stille ganz bei sich sein dürfen und sich hundertprozentig darauf verlassen können, dass sie dabei nicht gestört werden. Ich habe auch schon erlebt, dass Kinder geweint haben, weil in der Stille Erinnerungen wach wurden, für die sie sonst nirgends Platz hatten – zum Beispiel an den verstorbenen Großvater. Das sind ganz berührende Momente. Ich beobachte die Kinder während der Stille-Übungen und frage am Schluss immer, ob es ihnen gutgeht oder ob sie irgendetwas loswerden möchten. Niemand geht traurig oder bedrückt aus dem Raum hinaus.
Diese innere Feinfühligkeit kann im Raum der Stille aktiviert werden. Vom ersten Schultag an lernen die Kinder, ihre Wahrnehmungen zu filtern, weil mehr Reize da sind, als sie verarbeiten können, und weil sie ständig ausloten müssen, welches Verhalten gerade verlangt wird. Die innere Feinfühligkeit kommt dabei meist zu kurz. Wir brauchen sie aber auch, um unseren spirituellen Fragen nachzuspüren. Riten, Religionsunterricht und der Gottesdienst sind sehr wertvoll, aber die innere Spiritualität sorgt dafür, dass wir immer wieder unseren Glauben erforschen, sodass er nicht hohl und leer wird. Nur so kann er sich immer erneuern und der Kern dieser Erfahrung liegt in der Stille.
Jetzt wollen Kinder in der großen Pause meist herumtoben, weil sie im Unterricht so viel sitzen mussten. Das Angebot ist freiwillig. Welche Kinder kommen da? Sind das immer dieselben?
Das ist völlig unterschiedlich. Es gibt Kinder, die müssen sich sehr viel bewegen und brauchen viel Input, und es gibt Kinder, die brauchen Stille. Und es gibt Kinder, die genau beides im Kontrast zueinander suchen. Die Kinder, die eher introvertiert sind und gerne Dinge auf sich wirken lassen, kommen schon häufiger. Aber es ist nicht so, dass sie die einzigen sind. Manche kommen regelmäßig, andere zwei- bis dreimal und dann erst wieder nach einer langen Pause. Aber ich glaube, jedes Kind kommt im Laufe seiner Grundschulzeit mindestens einmal und probiert die Stille aus. An unserer Schule haben wir Sportmöglichkeiten, eine super Bibliothek, tolle Kreativräume. Wir müssen aber auch einen Raum öffnen, um Stille zu erfahren, denn wenn man das nie erlebt hat, weiß man vielleicht gar nicht, dass man das eigentlich braucht oder vermisst.
Wieso wird diese Erfahrung von Stille bislang so wenig im Schulalltag mitgedacht?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, das liegt an den Erwachsenen, die die Stille gar nicht mehr kennen. Selbst die Liturgie eines normalen Gottesdienstes ist nicht wirklich auf Stille ausgerichtet, sondern folgt festen Regeln. Gebete, Fürbitten, Lieder – da ist nicht viel Raum für Stille. Viele Erwachsene verspüren darüber hinaus den Druck, den Kindern immer etwas bieten zu müssen. Natürlich ist die Mehrzahl der Kinder gerne in Bewegung und laut. Wenn man auf einen Schulhof kommt, denkt man nicht, dass die Kinder bestimmt einen Raum der Stille wollen. Aber das liegt daran, dass sie selten die Erfahrung der Stille gemacht haben – und was man nicht kennt, kann man nicht einfordern.
Den Raum der Stille gibt es jetzt seit mehr als zehn Jahren. Geht das Konzept auf?
Absolut. Meine Erwartungen sind sogar übertroffen worden. Ich kann es gar nicht fassen, dass wir so lange ohne diesen Raum ausgekommen sind und dass es einen solchen Raum nicht an allen Schulen gibt. Selbst wenn an manchen Tagen nur wenige Kinder kommen, nehmen diese das Gefühl der Stille in ihren Alltag mit. Das empfinde ich als sehr wertvoll.
Was war Ihr schönstes Erlebnis im Raum der Stille?
Da gibt es tausende. Ich habe zum Beispiel nirgendwo anders erlebt, dass Kinder sich bedanken, wenn sie aus einem Raum hinausgehen. Das ist wirklich ganz berührend, wenn sich die Kinder bei mir als Anleiterin bedanken, obwohl ich nur wenig zu dem Erlebnis beitrage. Sonst reiße ich mir ein Bein als Lehrerin aus, um einen guten Unterricht zu machen, und nie sagt da ein Kind „Danke“. Aber diese Erfahrung der Stille schätzen die Kinder und danken dafür von Herzen.
Ich habe auch einmal ein Kind erlebt, das bei den Stille-Übungen immer eingeschlafen ist. Ich habe es darauf angesprochen und es hat mir erzählt, dass es nirgends so gut schlafen kann wie im Raum der Stille. Dieses Kind hat sich in seiner häuslichen Umgebung nicht richtig sicher gefühlt. Natürlich ist der Raum der Stille kein Ort zum Schlafen, aber in dem Fall war das völlig in Ordnung, weil das Kind wusste, dass es dort sicher ist.
Ich erinnere mich noch an einen weiteren schönen Moment. Es hat geschneit und ich habe die Kinder die Socken ausziehen und kurz barfuß durch den Schnee laufen lassen. Still blieb es dabei natürlich nicht und ich hatte schon ein wenig Sorge, wie ich das wieder einfangen sollte. Aber dann haben sich alle auf ihre Matte gelegt und ich habe die Füße von jedem Kind mit einer Decke umwickelt. Auf einmal sind alle komplett still geworden und haben diese Erfahrung aufgearbeitet und dem nachgespürt. Das war ganz ergreifend.
Der Raum der Stille steckt also voller wunderschöner Überraschungen.