Interview

Margot Käßmann: „Stille kann man lernen – und es lohnt sich“

Als Jugendliche hat sie Posaune gespielt, heute gibt sie in gesellschaftlichen Debatten gern den Ton an. Doch genauso wie in der Musik braucht es auch im Leben Pausen. Ein Plädoyer der Theologin Margot Käßmann für die Stille.

veröffentlicht am 08.11.2024

Sie sind ein umtriebiger Mensch, halten Predigten und Vorträge, schreiben Bücher – kurzum: Sie sind niemand, den man als stille Person bezeichnen würde. Trotzdem können Sie der Stille viel abgewinnen. Ein Widerspruch?
Nein, überhaupt nicht. Die Stille ist für mich vielmehr eine Ergänzung, denn aus ihr gewinne ich die Kraft für meinen Alltag. Sie stärkt meine Seele und hilft mir, mich zu konzentrieren. Ich mag lange Spaziergänge und genieße die Stille dabei. Beim Gehen still werden, denken und loslassen dürfen, das hat mir schon immer gutgetan.

Bei Ihren Spaziergängen sind Sie oft am Meer unterwegs. Warum eignet sich die Natur so gut, um still zu werden?
Die Natur hat eine besondere Stille. Stille bedeutet keine komplette Geräuschlosigkeit. Am Meer höre ich das Wasser, die Vögel, den Wind. Doch das sind Geräusche, die helfen, innerlich still zu werden. Im Gegensatz zu den Geräuschen der Stadt. Als ich einmal mit meiner Tochter in einem Ferienhaus an der Elbe war, sagte sie zu mir: „Hörst du die Stille, Mama?“ Wir wohnten damals mitten in Hannover im Haus der Bischofskanzlei. Über uns lebte mein Referent mit seiner Familie, unter uns waren die Büroräume, vor uns die Straße, hinter uns der Maschsee. Da war es nie still, da war immer etwas los. Umgeben von diesen Stadtgeräuschen findet man nicht zur Ruhe.

Ruhige Spaziergänge in der Natur sind das eine. Was haben aber Stille und Spiritualität miteinander zu tun?
Still zu werden, ist eine Form der Spiritualität. In allen Religionen dieser Welt ist dieses Stillwerden und Meditieren eine Möglichkeit, um mit Gott ins Gespräch zu kommen und Heilige Geistkraft zu spüren. Das kann man nicht im Alltag, wenn man kochen, putzen, waschen und arbeiten muss. Dazu muss der Mensch sich von all diesem Alltagsgeschehen loslösen – und genau das passiert in der Meditation.

In der Stille kann man Gott also besser begegnen.
Ja, dem würde ich zustimmen. Es gibt eine schöne biblische Szene, als sich der Prophet Jeremia vor Gott versteckt. Dann kommen Sturm, Erdbeben und Feuer, aber Gott ist nicht in alledem, sondern er ist in einem stillen Sausen zu spüren. Eine Übersetzung spricht vom „dahinschwebenden Schweigen“. Das finde ich sehr anrührend. Gott ist im Leisen gegenwärtig, und daher können wir Gott auch besser spüren, wenn wir uns selbst zurücknehmen und offen für eine Begegnung werden.

Solch ein Ort der Begegnung kann zum Beispiel eine Kirche sein. Woher kommt es, dass Menschen, ob religiös geprägt oder nicht, meistens sofort still werden, wenn sie eine Kirche betreten?
Ich bin überzeugt, auch nicht religiöse Menschen merken, dass dies ein durchbeteter, ein besonderer Raum ist. Im Jahr 1999 bin ich Landesbischöfin geworden, 2000 war dann die Expo in Hannover. Als evangelische und katholische Kirche waren wir dort mit einem gemeinsamen Pavillon vertreten. Eine Glas-Stahl-Konstruktion, die erst einmal furchtbar kühl wirkte. Jede Stunde hatten wir ein Gebet, und ich hatte das Gefühl, dass sich dieser Raum während der Wochen der Expo veränderte und ebenfalls zu einem „heiligen“, durchbeteten Raum wurde. Auch das haben die Besucherinnen und Besucher gespürt und den Pavillon anders wahrgenommen als den Rest der Expo.

Viele sehnen sich nach Stille, können sie aber nur schwer aushalten.
Wenn wir still werden, setzen wir uns mit existenziellen Fragen auseinander. Macht mein Leben Sinn? Was ist wirklich wichtig? Wie will ich leben? Wie sterblich bin ich? Das sind alles Themen, denen viele ausweichen. Trotzdem ermutige ich dazu, diese Konfrontation zu wagen und Stille einzuüben.

Wie kann man Stille einüben und lernen?
Stille heißt nicht, ich schalte einfach mein Handy aus und klick ist die Stille da, sondern Stille hat mit Erfahrung zu tun. Das ist wie beim Joggen. Manchmal hast du dazu keine Lust, aber du weißt aus Erfahrung, dass es dir danach besser geht. Bei der Stille ist es genauso. Wenn man sie einmal als wohltuend erlebt hat, ist die Motivation größer, regelmäßig Zeiten der Stille in seinen Alltag einzubauen. Das kommt nach und nach. Stille kann man lernen – und es lohnt sich.

Ist Stille immer wohltuend?
Nein, Stille ist nicht nur positiv. Es gibt viele einsame Menschen, für die es viel zu still ist, weil sie mit niemandem reden können. Das muss man natürlich unterscheiden. Oder die stille Angst, wenn jemand auf eine Diagnose wartet und nicht weiß, wie es weitergeht.

Oder die Stille nach einem Todesfall oder einem großen Verlust …
Auch die gibt es. Doch da zeigt uns eine biblische Geschichte, dass Stille auch in einer solchen Situation heilsam sein kann. Als Hiob alles verliert, schweigen seine Freunde sieben Tage und Nächte mit ihm. Sie ­haben nicht gleich eine Erklärung parat oder einen schwachen Trost wie „Das wird schon wieder!“. Sie sitzen mit ihm da und teilen das Leid. Das habe ich auch als Pfarrerin erlebt. Wenn es um existenziellen Schmerz geht, können Worte oft nicht helfen, weil sie so banal klingen. Da ist es besser, gemeinsam die Stille auszu­halten. Doch nach dieser Stille kommen die Freunde Hiobs wieder ins Gespräch. Stille soll nicht lähmen, aber es ist wichtig, sie miteinander ertragen zu können.

Sie sind nicht nur Pfarrerin, sondern auch Mutter von vier Töchtern. Wie haben Sie es geschafft, sich stille Momente im trubeligen Familienalltag zu schaffen? Und was raten Sie jungen Eltern?
Ich habe damals mit dem Joggen angefangen. Zweimal die Woche musste ich raus, um für mich zu sein und wieder zu wissen, wer ich bin und was ich will. Das rate ich auch allen jungen Eltern: Nehmt euch eine Stunde in der Woche, die nur euch allein gehört. Ganz ohne Kinder, ohne Familie, ohne Verantwortung. Nur die Frau, die einen Spaziergang macht. Oder nur der Mann, der eine Runde joggen geht. Ich sehe bei meinen Töchtern, dass das in dieser Rushhour des Lebens mit Beruf, Familie und Alltagsbewältigung ungeheuer schwer ist. Aber es ist für junge Eltern ungeheuer wichtig.

Können Familien auch gemeinsam im Alltag Momente der Stille einbauen?
Da möchte ich bei den Eltern gerne den Druck rausnehmen. Kinder müssen nicht immer beschallt und bespaßt werden. Denen darf mal langweilig sein und dann werden sie selbst kreativ. Auch das schafft Ruhe. Außerdem finde ich es schön, wenn eine Familie ein Tischgebet spricht, um einmal kurz innezuhalten, bevor das Essen losgeht. Das kann ein einfacher, aber schöner gemeinsamer Familienmoment der Stille sein.

Portrait Margot Käßmann

Die evangelisch-lutherische Theologin und Pfarrerin Margot Käßmann (66) war in vielen leitenden Ämtern tätig – als hannoversche Landesbischöfin, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017. Heute ist die sieben­fache Großmutter als Rednerin und Buchautorin sehr gefragt. In ihrem Buch „Stärkende Stille“ (erschienen im Verlag Herder) erklärt sie, welche unterschiedlichen Facetten Stille haben und wie man aus ihr Kraft schöpfen kann.


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