Pass doch mal auf!
Konzentrationsschwäche bei Kindern: Das Umfeld miteinbeziehen und viel loben
Manchen Kindern fällt es schwer, konzentriert an einer Sache dranzubleiben. Das führt zu Problemen in der Schule und in der Selbstwirksamkeit. Psychologe Gordon Wingert über Ursachen und erste Schritte, um konzentrationsschwache Kinder zu stärken.
veröffentlicht am 03.05.2024
Aus Ihrer Erfahrung: Können sich Kinder heute schlechter konzentrieren als noch vor zehn oder zwanzig Jahren?
Das ist eine Hypothese, die man oft hört. Ich bin da etwas zwiegespalten, denn ich glaube, dass man das rückblickend ein Stück weit idealisiert. Eine Grundunkonzentriertheit war schon immer da. Was sich allerdings – gerade auch durch die Corona-Pandemie – bei den Kindern geändert und verschlechtert hat, ist die Selbstständigkeit und die Fähigkeit, sich zu organisieren. Das betrifft vor allem den schulischen Alltag.
Inwiefern spielt die gestiegene Nutzung von Smartphones und Social Media eine Rolle?
Natürlich trainieren die digitalen Medien, reizoffener zu sein und schnell von einer Aufgabe zur nächsten zu springen. Im schulischen Setting wird das nicht gern gesehen. Dort sollen sich die Kinder eine Zeitlang nur mit einer Sache beschäftigen. Ich würde das aber nicht komplett verteufeln, denn später im Berufsalltag kann genau diese Fähigkeit oft auch hilfreich sein. Die Antwort liegt, wie so oft, in der Mitte.
Wie lange muss sich ein Kind konzentrieren können und wann beginnt eine Konzentrationsschwäche?
Das kommt auf die Altersstufe an. Von sechs bis acht Jahren geht man davon aus, dass sich Kinder etwa zehn bis 15 Minuten mit einer Sache beschäftigen können. Im Alter von acht bis elf Jahren sind es 15 bis 25 Minuten. Ab zwölf Jahren, da gehören dann auch wir Erwachsenen dazu, sind es 35 Minuten. Da merken Sie schon, das ist kürzer als die Dauer einer Unterrichtsstunde in der Schule.
Wenn diese Zeitspannen deutlich unterschritten werden und sich bestimmte Szenarien häufen, spricht man von Konzentrationsschwächen. Jedes Kind schaut einmal aus dem Fenster, hört nicht zu oder verliert Gegenstände. Wenn das aber über einen längeren Zeitraum geschieht, ist das ebenfalls ein Hinweis auf eine Konzentrationsschwäche.
Inwiefern unterscheiden sich normale Konzentrationsschwächen von ADHS?
Bei ADHS gibt es drei unterschiedliche Bereiche: die Aufmerksamkeitsstörung, die Hyperaktivität und die Impulsivität. In jedem dieser Bereiche muss es Defizite geben. Dafür existiert ein richtiger Kriterienkatalog. Wenn ein Kind beispielsweise nur Schwierigkeiten hat, sich bei den Hausaufgaben zu organisieren, würde das noch nicht unter ADHS fallen. Es müsste zusätzlich noch motorisch unruhig sein, übermäßig viel reden, andere stören etc. Das ist genau definiert. Es gibt also Kinder, die etwas unkonzentriert sind, bei denen man aber noch nicht von einer ADHS sprechen würde.
Werden Konzentrationsschwächen bei Kindern überproblematisiert? Sind sie wirklich ein Problem des Kindes oder vielleicht einfach unseres Schulsystems oder unserer Vorstellung vom schulischen Lernen?
Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an. Wenn wir über Konzentrationsschwächen reden, gehen wir meistens stark davon aus, dass diese beim Kind verursacht sind. Tatsächlich provoziert das Umfeld aber auch viel. Wenn der Unterricht beispielsweise zu lang ist oder zu wenige Pausen eingebaut werden, hat das eine Auswirkung auf die Konzentration. Oder wenn ein zurückhaltendes Kind in eine Schule mit eher rauerem Schulklima kommt, sorgt es sich vielleicht bereits die letzten zehn Minuten des Unterrichts, auf dem Schulhof angerempelt zu werden, und kann sich nicht mehr konzentrieren.
Über Jahrzehnte wurde immer nur geschaut, wie das Kind gefördert werden kann. Das ist richtig, aber man muss ebenso überlegen, wie wir Erwachsene Kindern ein Umfeld schaffen können, innerhalb dessen sie erfolgreich sein können und das Gefühl haben, wahrgenommen zu werden. Dadurch fangen wir ganz viel auf. Spaß und Freude spielen eine große Rolle, damit Kinder sich besser konzentrieren können.
Wann sollten Eltern aktiv werden und gegensteuern?
Wenn tatsächlich über einen längeren Zeitraum von bis zu zwei Monaten Schwierigkeiten auftreten, das Kind zappelig ist und seine Aufgaben nicht mehr organisieren kann, sollten Eltern anfangen, ihr Kind mehr zu unterstützen. Da geht es aber zunächst nur um kleine Interventionen zu Hause. Eltern sollten nicht gleich zu übereifrig werden, denn Konzentrationsprobleme können auch Herausforderungen sein, an denen die Kinder wachsen können. Wenn wir zu früh einschreiten, nehmen wir dem Kind möglicherweise Hindernisse, die für seine Entwicklung wichtig sein können. Es kommt auf die Dosierung an.
Was können solche kleinen Interventionen zu Hause sein?
Da wären zum einen die Klassiker: dass man für einen ruhigen Arbeitsplatz und wenig Ablenkung sorgt und dass man als Eltern nicht ständig dabei ist. Viele Eltern sitzen bei den Hausaufgaben immer neben ihrem Kind. Oder die Kinder machen die Hausaufgaben in der Küche oder am Esszimmertisch, damit die Eltern gleich in der Nähe sind. Das bewirkt bei einigen Kindern, dass sie sich zu schnell zu viel Hilfe suchen.
Zum anderen geben wir den Eltern bei unseren Trainings drei Schlagworte mit auf den Weg: lesen – sagen – tun. Wenn das Kind eine Aufgabe hat, soll es sie zuerst vorlesen und dann in eigenen Worten wiederholen. Wenn man Kinder einfach nur fragt, ob sie verstanden haben, was sie machen sollen, sagen alle Kinder ja. Deswegen sollen sie es in eigenen Worten wiederholen, damit die Eltern besser kontrollieren können, ob die Aufgabe tatsächlich verstanden wurde. Wenn das klar ist, sollen die Kinder die Aufgabe möglichst allein lösen. Nach einiger Zeit, frühestens aber nach zehn Minuten, können Eltern dann kurz nachfragen. Das reicht oft schon, damit Kinder selbstständiger werden. Nachdem die Kinder fertig sind, können Eltern dann viel loben. Das baut das Selbstbewusstsein auf.
Mit Ihren Marburger Trainings wollen Sie helfen, die Aufmerksamkeit junger Menschen zu verbessern. Worauf setzen Sie dabei vor allem?
Wir üben mit den Kindern vor allem eine bestimmte Fähigkeit ein – das innere Sprechen. Wissenschaftlich ausgedrückt ist das die Methode der verbalen Selbstinstruktion. Das bedeutet, dass wir dem Kind helfen, bei einer Sache zu bleiben, indem es sich selbst instruiert und sich die Aufgabenstellung leise vorsagt. Das ist der Übertrag zu dem, wie es die Eltern mit ihren Kindern machen sollen. Immer wenn das Kind sich die Aufgabe vorsagt, kann es sich gedanklich mit nichts anderem beschäftigen. Das ist der Trick dabei. Diese Methode wurde schon in den 80er-Jahren angewandt und ist ungemein hilfreich.
Darüber hinaus wollen wir immer mehr Lehrkräfte in den psychologischen Grundlagen eines guten Unterrichts ausbilden. Denn es hilft nur bedingt, allein die Kinder zu trainieren, wenn sie danach in ein Umfeld geschickt werden, in dem sie ihre gelernten Techniken nicht anwenden können. Wir müssen alle Beteiligten zusammenbringen – das ist für mich das Tor in die Zukunft. Lehrkräfte, Eltern und Kinder müssen wissen, wie sie optimal mit Konzentrationsschwächen umgehen können.
Wie erleben sie die Kinder zu Anfang Ihrer Trainings und am Ende?
Am Anfang sind sie typischerweise oft sehr hibbelig. Durch die Struktur, die wir ihnen vorgeben, können sie ihre Konzentration allerdings schnell bündeln. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass sie nach dem Training deutlich zielgerichteter an ihre Hausaufgaben herangehen und weniger Flüchtigkeitsfehler machen. Auch das steigert das Selbstbewusstsein und die Kinder gehen wieder motivierter und mit mehr Freude an Aufgaben heran.
Jetzt werden diese Stunden durch ausgebildete Trainer durchgeführt. Welche Rolle spielen die Eltern dabei?
Wir haben Elternabende, die das Training für die Kinder begleiten. Da erklären wir den Eltern den vorhin schon erwähnten Dreiklang „lesen – sagen – tun“. Ganz wichtig ist es aber auch, die Kinder zu loben. Dadurch werden sie in ihrer Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit gestärkt. Bei vielen konzentrationsschwachen Kindern ist es nämlich ein großes Problem, dass sie sich nicht so viel zutrauen. Wir wollen Eltern dabei unterstützen, das Positive bei ihren Kindern hervorzuheben, damit auch ihre Kinder selbst wieder das Positive in sich sehen.