Vermisste Minderjährige

Wenn Kinder von zuhause ausreißen

Tausende Kinder und Jugendliche pro Jahr laufen in Deutschland von daheim weg. Warum das so ist und wie Eltern reagieren sollten, erklärt Sozialarbeiter Oliver Schwarz.

veröffentlicht am 30.06.2015

Warum laufen Kinder und Jugendliche von zu Hause weg?
Oliver Schwarz: Weil es für sie zu Hause nicht mehr aushaltbar ist. Es ist für sie so schlimm, dass sie es psychisch, vielleicht auch körperlich, nicht mehr aushalten, zu bleiben. Ihr Gefühl ist: Überall ist es besser als hier. Oder: Im Nirgends ist es besser als hier. Denn sie wissen ja oft gar nicht, wohin.

Was ist da vorher passiert?
Es sind so schlimme Dinge passiert, dass der Jugendliche subjektiv entscheidet: Es geht nicht mehr, ich gehe kaputt. Das kann körperliche, psychische, aber auch sexuelle Gewalt sein oder auch Verwahrlosung, Vernachlässigung. Das sind die zwei Extreme. Beide sind schlimm. Es gibt auch Fälle, wo Jugendliche das Gefühl haben, sie kriegen materiell alles, aber emotional gar nichts.

Leistungsdruck kann eine Ursache sein, das Gefühl, nicht sein zu dürfen, was man eigentlich ist, was man gerne sein möchte. Außerdem können psychische Erkrankungen in der Familie ein Grund sein.
Es ist normal, dass Eltern und ihre minderjährigen Kinder Konflikte haben.

Wo ist die Grenze, an der ein Jugendlicher tatsächlich entscheidet, wegzugehen?
Natürlich ist es ganz wichtig, dass Eltern und Kinder sich fetzen und dass da die Grenzen ausgetestet werden. Dass Eltern Grenzen stecken, ist wichtig. Wenn das gut klappt, ist das gut aushaltbar. Das fordern die Jugendlichen auch ein, denn grenzenlos zu sein, ist auch ein Problem für sie. Aber entscheidend ist, wie zum Beispiel bestraft wird: Wird geschlagen, geprügelt? Wird in den Keller gesperrt? Oder ist mal einen Abend der Computer nicht verfügbar, darf der Jugendliche im Fernsehen die Lieblingssendung nicht anschauen?

Passiert es auch, dass Eltern ihr Kind hinauswerfen?
Ja, das kommt vor, dass Eltern sagen, wir halten das nicht mehr aus, wir haben schon das Schloss ausgewechselt, du kommst hier nicht mehr rein.

Auch bei Minderjährigen?
Auch das. Und auch auf anderem Weg. Zum Beispiel, wenn Eltern erfahren, dass ihr Kind weg ist und am Stuttgarter Hauptbahnhof sitzt, und es ist ihnen egal.   

Wohin gehen die Kinder und Jugendlichen?
Diejenigen, die es wirklich ernst meinen, wollen nicht gefunden werden. Das heißt, sie müssen in die Großstadt gehen. Auf dem Land kann man nicht Straßenkind werden. Da laufen ja alle vorbei. Man muss irgendwohin, wo man anonym untertauchen kann und wo man Gleichgesinnte findet.

Wo übernachten sie und wovon leben sie?
Draußen, also in Tiefgaragen, unter Laderampen, im Park, in Passagen. Vielleicht finden sie auch einen Unterschlupf bei anderen aus der Szene oder auch in Einrichtungen. Es gibt Hilfe, aber immer nur für einen kurzen Zeitraum. Auch zu essen bekommen sie in unterschiedlichen Einrichtungen. Und dann schnorren sie auch, sie betteln.

Haben die Jugendlichen irgendeine Vorstellung davon, wie sie wieder aus der Situation herauskommen sollen?
Sie haben zuerst mal das Gefühl: Jetzt bin ich endlich diesen Mist los! Einige von ihnen wissen gar nicht, wie man sich selbst eine Perspektive bildet. Das ist dann eher unser Job, das zu erfragen und dann nach Perspektiven zu suchen.

Wünschen sich die Jugendlichen denn, wieder in ihre Familie zurückzugehen?
Ja, ein Teil von ihnen wünscht sich das. Ihr Wunsch ist: Können sich meine Eltern nicht ein bisschen ändern, damit ich wieder bei ihnen sein kann? Eigentlich will ich bei ihnen sein, aber es geht nicht, weil sie sich nicht geändert haben. Manche probieren es auch immer wieder. Das geht zwei Wochen gut, dann ist alles wie vorher, und sie gehen wieder weg.

Welche Anzeichen können darauf hindeuten, dass ein Kind möglicherweise von zu Hause weglaufen will?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich will es mal so sagen: Wenn Eltern Anzeichen wahrnehmen können, dass ihr Kind weglaufen könnte, dann sind das Eltern, deren Kind nicht weglaufen wird. Und die Eltern, deren Kind weglaufen wird, die werden nicht unbedingt die Anzeichen wahrnehmen können.

Wenn Eltern mit ihrem Kind einen guten Umgang pflegen, wenn sie ein Vertrauensverhältnis, eine sichere Bindung haben, dann kann so etwas gar nicht passieren. Dann versuchen sie, herauszukriegen, was los ist, was gerade schiefläuft, und entsprechend gegenzusteuern. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Eltern wahnsinnig geschockt sind, wenn ihre Kinder weglaufen. Weil sie gar nicht wahrgenommen haben, dass etwas nicht stimmt.

Was sollten Eltern tun, wenn ihr Kind weggelaufen ist?
Eltern, die sich kümmern, gehen zur Polizei und geben eine Vermisstenanzeige auf.

Sofort?
Eigentlich sofort. Wir machen allerdings leider die bittere Erfahrung, dass es Eltern gibt, die auch das nicht tun. Dann kann man sich fragen, was der Hintergrund ist. Vielleicht trauen sich manche nicht. Es kann mit Scham zu tun haben. Es ist schwierig, wenn man zur Polizei gehen und sagen muss, mein Kind ist weggelaufen. Aber es gibt auch Eltern, die kümmert es nicht. Und dann gibt es auch Eltern – hoffentlich nur wenige –, die sogar ein bisschen froh sind, dass der Quälgeist endlich weg ist. Das sind die, die kurz davor waren, ihr Kind selbst hinauszuwerfen.

Wie sollten sie reagieren, wenn das Kind nach ein paar Tagen wiederkommt?
Dann sollten sie sich dringend dafür interessieren, wo es war, was es erlebt hat. Um dann auch möglicherweise herauszufinden, wie es dazu kam, dass das Kind weggelaufen ist. Wichtig ist, dass es sich willkommen fühlt.

Die eigene Wut, den Druck herauszulassen, wäre in dieser Situation schlecht. Man kann dem Kind schon sagen, dass man sich große Sorgen gemacht hat. Aber es geht nicht darum, jemandem die Schuld zu geben, zumal da immer zwei dazugehören. Schön wäre, wenn die Eltern äußern würden: Ich bin froh, dass du wieder da bist!

Was passiert, wenn sich herausstellt, dass es gar nicht mehr geht mit dem Zusammenleben?
Dann ist das Jugendamt gefragt. Es gibt die unterschiedlichsten Hilfsmöglichkeiten und  Betreuungseinrichtungen. Gut wäre es, wenn das Kind mit entscheiden könnte, wohin es kommt und wie es weitergeht.
Oliver Schwarz ist Sozialarbeiter und Sozialpädagoge mit Weiterbildungen unter anderem in Systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie sowie Traumatherapie. Er arbeitet im Schlupfwinkel, einer Kontakt- und Beratungsstelle in Trägerschaft von Caritas und Evangelischer Gesellschaft in Stuttgart.

Vermisste Minderjährige

Eine Statistik über die Gesamtzahl der Vermissten in Deutschland pro Jahr gibt es nicht. Aber es existieren Zahlen für bestimmte Stichtage. Am 1. April 2015 waren nach Angaben des Bundeskriminalamtes 620 Kinder (bis höchstens 13 Jahre) und 2.654 Jugendliche als vermisst registriert. Diese Zahlen beinhalten sowohl Fälle, die innerhalb weniger Tage aufgeklärt wurden, als auch bis zu 30 Jahre alte Fälle.


Verwandte Themen

Junge Frau sitzt einsam in dunkler Straßenecke
Kind im Knast
Wenn das eigene Kind mit dem Gesetz in Konflikt kommt, sind die Eltern geschockt. In den meisten Fällen ist eine Lösung in Sicht. Doch manchmal müssen die Eltern hilflos zusehen, wie ihnen ihr Kind entgleitet.
Illustration Eltern schimpfen mit Jugendlichem, der vor Computer sitzt
Locker bleiben
Die Pubertät ist eine Herausforderung – auch für die Eltern. Je mehr Mütter und Väter sich ihrer eigenen Gefühle bewusst werden, desto einfacher wird diese besondere Zeit für die ganze Familie.
Paar nachdenklich aneinander gelehnt auf Bank
Hilfe für Angehörige
Ein Kind landet im Knast. Für die Eltern ist das der Super-GAU. Christel Brendle von der Beratungsstelle für Angehörige von Inhaftierten erklärt, was Eltern von Inhaftierten bewegt und wie sie lernen können, mit der schwierigen Situation umzugehen.