Austausch und Vernetzung
Auszeit für Familien – Wie die Kirche Alleinerziehende unterstützt
Franziska Rice lebt getrennt vom Vater ihrer Kinder. Obwohl die Söhne einen Teil der Woche beim Vater verbringen, trägt sie die Hauptverantwortung. Ein Seminar für Alleinerziehende bietet Frauen wie Rice und ihren Kindern eine Auszeit vom Familienalltag.
veröffentlicht am 21.10.2021
Franziska Rice will in Zukunft „gerne mehr fließen“. „Ich finde es doof, dass wir so viel begrenzen“, sagt die Mutter von zwei Jungs in der Runde mit insgesamt neun Frauen, die auf den ersten Blick ganz unterschiedlich sind und doch ähnliche Erfahrungen teilen. Seit vier Tagen ist die Gruppe, bestehend aus alleinerziehenden Müttern und der Leiterin des viertägigen Seminars „Dem blauen Wunder begegnen“, im Bildungshaus St. Luzen im schwäbischen Hechingen am Fuße der Burg Hohenzollern. Heute lassen sie die vergangenen Tage Revue passieren. Sie sei ein bisschen traurig geworden, erzählt Rice, als ihr Sohn Leonidas heute gesagt habe: „Ich möchte nicht mehr müssen.“ Die Frauen in der Runde kennen das Gefühl des Sechsjährigen.
„Ich empfinde mein Leben als sehr rasant“, betont Franziska Rice am Tag nach dem Seminar wieder zu Hause auf ihrem Sofa. Seit zwei Jahren lebt sie getrennt vom Vater der Kinder. Die Beziehung endete schon früher. Zweimal pro Woche und jedes zweite Wochenende schlafen die Kinder beim Vater. Zwar werde die Erziehung von vielen Schultern getragen, von Eltern und Großeltern, von Kita und Schule und auch von Freunden und Nachbarn. Doch auf der organisatorischen Ebene empfinde sie sich trotzdem als alleinerziehend. „Ich trage die Hauptverantwortung“, erklärt sie und meint damit den Alltag, die tägliche Versorgung, das Kaufen von Kleidung sowie die Organisation des sozialen Lebens der Kinder. Wer trifft wann wen, wer muss wann wo abgeholt werden? „Ich mache Punktlandungen. Ich kriege alles hin. Aber Punktlandung bedeutet auch: Ich kriege keine Pausen.“ Wenn dann die Puste ausgehe, sagt Rice, sei die Kunst, um Hilfe zu fragen.
Das Gefühl, nicht allein dazustehen
Beim Seminar liest Edith Lauble, die als Bildungsreferentin für Alleinerziehendenarbeit im Erzbistum Freiburg das Angebot im Bildungshaus St. Luzen leitet, eine Geschichte vor: „Sam und das Meer“. Darin baut eine Maus, die am Fluss lebt, ein hochseetaugliches Schiff, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie sucht das Meer und sticht in See, obwohl ihre Nachbarn sie für verrückt halten. Die Farbe des Meeres, Blau, diente die fünf Tage über als Leitmotiv. So besuchten die Mütter unter anderem den Künstler Andreas Felger, der von seiner „blauen Phase“ berichtete, befassten sich inspiriert durch die Bibel mit eigenen Kraftquellen und experimentierten wie ihre Kinder, angeleitet durch eine Ausdrucksmalpädagogin mit der Farbe Blau. Während Lauble am letzten Seminartag von Sams Geschichte erzählt, sieht man den Müttern an, wie sehr sie den Moment genießen und zur Ruhe kommen.
Das häufig höhere Stresslevel, dem besonders Mütter und auch Väter in Ein-Eltern-Familien im Alltag ausgesetzt sind, die wenig Unterstützung aus ihrem Umfeld erfahren, hat nicht selten Auswirkungen auf die Gesundheit. So stellt ein Beitrag im Journal of Health Monitoring des Robert Koch Institutes im Dezember 2017 fest, dass alleinerziehende Frauen und Männer in Deutschland signifikant häufiger etwa an Depressionen und Rückenschmerzen leiden und häufiger rauchen als Eltern in Partnerschaft. Ähnliche Ergebnisse finden sich auch für Alleinerziehende in Österreich.
Auch deshalb bietet Edith Lauble Ein-Eltern-Familien eine vorübergehende Auszeit vom Alltag und eine Möglichkeit für Austausch und Vernetzung. Eine Teilnehmerin verweist darauf, dass ihr die Tage in St. Luzen das Gefühl geben, ein wenig gesünder wieder nach Hause kommen zu können. Die Mütter sehen, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich überwiegend oder ganz allein um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Sie sehen, was sie selbst schon geschafft haben, oder was noch auf sie zukommt. Sie nehmen das Gefühl mit nach Hause, nicht allein dazustehen. Trotz aller Unterschiede, die zwischen den Erfahrungen und Lebenssituationen bestehen. Franziska Rice etwa hat einen neuen Partner, der selbst eine zwölfjährige Tochter hat, und teilt sich das Sorgerecht für Leonidas und seinen großen Bruder Alexander mit dem Vater der Kinder. Manche sind verwitwet oder aus anderen Gründen allein sorgeberechtigt und finden kaum Unterstützung in ihrem Umfeld. Die Bandbreite ist groß.
Die Großen helfen den Kleinen
Seit 35 Jahren gibt es Angebote für Alleinerziehende im Erzbistum Freiburg, die viele unter anderem aufgrund der bis vor wenigen Jahren geltenden Regeln zum Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen dort nicht vermuten. Mit dem vor fünf Jahren veröffentlichten Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Amoris laetitia“ lockerte Papst Franziskus diese Regeln etwas. Nicht nur deshalb erkennt Edith Lauble darin „eine neue Perspektive auf die Zerbrechlichkeit von Beziehungen“. „Zerbrechlichkeit wird als Faktum des Lebens angesehen und auch wertgeschätzt. Es wird klar ausgesagt, dass Verurteilungen zu vermeiden sind, da sie häufig die Komplexität der Beziehungen nicht berücksichtigten“, betont sie. „‚Amoris laetitia‘ öffnet ganz klar Türen, um auf Menschen, deren Partnerschaft zerbrochen ist, zuzugehen.“ Das ermutige und bestärke sie für ihre Arbeit, macht Lauble deutlich.
Die Arbeit mit Alleinerziehenden sieht sie im Wesentlichen als diakonische Aufgabe. Zwar möchte Lauble in den Angeboten auch Raum für Spiritualität bieten, etwa mit einem Nachtgedanken. Religiosität ist aber keine Voraussetzung für die Teilnahme an ihren Seminaren. Wenig religiöse Frauen, darunter auch eine Muslimin, nehmen ebenso teil wie in Gemeinden aktive evangelische oder katholische Christinnen. Weil jeder Urlaub für viele Ein-Eltern-Familien aufgrund der Doppelbelastung durch Job und Familie eine finanzielle Herausforderung darstellt, bietet Lauble das Seminar so günstig wie möglich an, querfinanziert durch das Erzbistum. Und auch in Härtefällen sucht sie immer nach einer Lösung.
Ganz bewusst richtet sich das Angebot an alleinerziehende Eltern und deren Kinder. 13 Kinder und Jugendliche sind in Hechingen dabei. Ein Team aus zwei Kinderbetreuerinnen und einem -betreuer kümmert sich um sie. Während ihre Mamas über das Gelände des Bildungshauses verteilt in Zweiergruppen auf das Seminar der vergangenen Tage zurückblicken, sitzen Kinder und Jugendliche alle gemeinsam vor dem Haus und spielen „Werwolf“. Jeder bekommt mit Karten eine Rolle zugelost: Werwolf, Dorfbewohner oder auch Hexe. Während die Dorfbewohner „am Tag“ versuchen, die Werwölfe zu enttarnen und aus dem Spiel zu wählen, entscheiden die Werwölfe „nachts“ im Geheimen, welche Dorfbewohner sie fressen wollen. Alle Kinder lassen sich voll auf das Spiel ein, die Fünfjährigen genauso wie die 15-Jährigen. Und die Großen helfen den Kleinen, die nicht in jeder Situation ganz mitkommen.
Zeit mit den Kindern ohne Haushalt und Alltag
Diese Gemeinschaft ist laut Edith Lauble ganz typisch. „Studien zeigen immer wieder, dass Kinder von Alleinerziehenden sehr sozial sind“, erklärt sie. Dass die Großen sich um die Kleinen kümmern, sei selbstverständlich. Neben der Auszeit vom Alltag profitieren sie wie ihre Mütter vom Austausch untereinander. Ganz von allein haben sie in den vergangenen Tagen begonnen, miteinander über ihren Alltag zu sprechen. Etwa darüber, wie viel Kontakt zum Vater besteht. „Das ist ein echter Gewinn für die Kinder“, ist Edith Lauble überzeugt.
Franziska Rice ist mit ihren Söhnen Leonidas und Alexander schon zum zweiten Mal beim Seminar des Erzbistums Freiburg. Das Seminar sei „immer eine Auszeit und die Chance, gemeinsam mit den Kindern Zeit zu verbringen ohne Haushalt und Alltag“, sagt sie.
Und es ist eine Möglichkeit, auf sich selbst zu schauen und sich mit anderen auszutauschen. Auch diesmal nimmt Rice wieder neue Kontakte zu zwei Familien mit nach Hause, die ähnliche Erfahrungen und Herausforderungen teilen. Im Alltag entstehen Verbindungen wie diese eher selten. Auch deshalb hat sie wieder am Seminar teilgenommen. „Es bewegt einfach ganz viel“, sagt sie.