Senioren
Gartentherapeutin Bärbel Zirkel: Gärtnern für Körper und Seele
Eine große Naturverbundenheit, eine noch größere Liebe zum Menschen und viel Geduld: Diese drei Eigenschaften braucht Bärbel Zirkel für ihre Arbeit als Gartentherapeutin. Seit fünf Jahren hilft sie anderen, physisch und psychisch beweglich zu bleiben.
veröffentlicht am 27.06.2023
Sie ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen, so scheint es. Ihr ganzes Wesen, ihre Bewegungen, ihre Stimme strahlen eine absolute Gelassenheit aus. Ihre Stärke ist es, sich zu 100 Prozent auf andere Menschen einlassen zu können, vor allem auf ältere. Eine optimale Voraussetzung für ihre Tätigkeit als Gartentherapeutin in stationären Pflegeeinrichtungen. Auch heute ist sie in einer Senioren-WG in Ottobrunn, einer Gemeinde südöstlich von München gelegen, im Einsatz.
Auf dem runden Tisch im hellen Foyer der Einrichtung ist bereits alles vorbereitet. Auf einem Tablett stehen mehrere kleine Vasen mit Frühlingsblumen – Hyazinthen, Narzissen, Freesien, Weidenkätzchen, Tulpen, Anemonen. Ein bunter Farbtupfer, der den Regen, der an die lange Fensterfront prasselt, schnell vergessen lässt. Eine ältere Dame mit dicken roten Socken kommt schlurfend um die Ecke. Sie wird von Bärbel Zirkel an der Hand geführt. Eine weitere WG-Bewohnerin folgt ihnen mit ihrem Rollator. Die anderen Seniorinnen stoßen nach und nach dazu. Bärbel Zirkel nimmt eine rosa Hyazinthe und hält sie der Dame rechts neben sich hin: „Riech mal, Anni, weißt du noch, was das für Blumen sind?“ Ihr Tonfall ist dabei sanft und sie beugt sich so weit zu Anni, dass sie sich auf Augenhöhe mit ihr befindet. Egal, mit wem sie spricht, Bärbel Zirkel sucht immer den Blickkontakt, wendet sich mit ihrem ganzen Körper der jeweiligen Person zu, lässt sich durch nichts ablenken. Anni freut sich über diese Aufmerksamkeit. Ihre Arme zittern ein wenig, sie antwortet nur leise, das Sprechen scheint ihr schwerzufallen. Trotzdem ist sie voll dabei und ergreift jede Blume mit Interesse. Regelmäßig huscht ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.
Durch Zufall zur Gartentherapie
Genau dieses Lächeln ist für Bärbel Zirkel die Bestätigung, dass sie ihre Arbeit gut macht und die Bewohnerinnen davon profitieren. „Man merkt es an ihrem Gesichtsausdruck und an der Ausdauer, sich eine Stunde auf ein Thema zu konzentrieren. Das ist für ältere Menschen, gerade für Menschen mit Demenz, sehr ungewöhnlich. Da spüre ich jedes Mal, dass Gartentherapie eine sinnvolle Sache ist. Deswegen habe ich damals diesen Weg eingeschlagen. Ich wollte weg vom Konsum und mehr mit und für Menschen machen.“
Bärbel Zirkel kommt 1956 in Castrop-Rauxel zur Welt. Im tiefsten Ruhrgebiet, das sie immer noch als ihre Heimat empfindet, auch wenn sie schon seit 40 Jahren in München lebt. Sie ist gelernte Gärtnerin und Floristmeisterin, hatte 35 Jahre ein eigenes Blumengeschäft. „Das hat mir sehr viel Freude bereitet“, sagt sie rückblickend. „Ich habe das mit Leidenschaft und Begeisterung gemacht und dabei viele Lehrlinge ausgebildet.“ Zur Gartentherapie hat sie ein reiner Zufall geführt: „Ich habe durch eine Kleinanzeige in einer Zeitschrift davon gelesen und dachte mir, dass ich das vielleicht zusätzlich machen könnte. Ich sah darin auch die Chance einer Arbeit, die ich noch im Alter ausführen kann.“ Und so begann Bärbel Zirkel 2014 die Ausbildung zur Gartentherapeutin in Hückeswagen nahe Wuppertal.
In Deutschland gibt es verschiedene Bildungsstätten, um sich als Gartentherapeut oder -therapeutin weiterbilden zu lassen. In der Schweiz und in Österreich besteht sogar die Möglichkeit eines Studiums. Zentrales Problem der Gartentherapeuten im gesamten deutschsprachigen Raum ist es jedoch, dass weder ihr Beruf geschützt ist noch ihre Leistung bei den Krankenkassen abgerechnet werden kann. Für Bärbel Zirkel ein Manko: „Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft ändern wird, denn Gartentherapie trägt zum Wohlbefinden der Menschen bei und kann in manchen Fällen, zum Beispiel bei Schlaganfallpatienten, durchaus auch die Heilung fördern.“
Positive Gartenerinnerungen
In der Arbeit mit älteren Menschen geht es zwar nicht mehr um Heilung, aber Studien belegen, dass gerade demente Personen sehr gut auf die Gartentherapie ansprechen. Denn das Riechen an Blumen oder das Berühren der Erde bei der Aussaat regt die Sinneswahrnehmungen an, die wiederum Erinnerungen wachrufen. „Egal, wen Sie fragen, fast jeder Mensch hat positive Gartenerinnerungen“, führt Bärbel Zirkel aus. Auch sie selbst – und zwar an den Garten ihrer Oma, den sie heute noch ganz genau vor Augen hat, den sie fast noch riechen kann. „Es gab eine Ecke, in der ein großer Fliederbusch stand. Darunter wuchs Rhabarber. Wir waren viele Enkelkinder, und im Frühling, wenn der erste Rhabarber reif war, haben wir von der Oma eine Untertasse mit Zucker in die eine und eine Stange Rhabarber in die andere Hand bekommen. Dann konnten wir den Rhabarber in den Zucker tauchen und abbeißen oder daran lutschen – das ist eine ganz intensive Kindheitserinnerung von mir, die mit Garten verbunden ist.“
Solche Erinnerungen möchte Bärbel Zirkel auch bei den Seniorinnen in Ottobrunn wecken. Bei Anni gelingt ihr dies ohne Weiteres. Die ältere Dame, deren Pullover genauso schneeweiß ist wie ihre Haare, erzählt, dass auch sie Tulpen in ihrem Garten gehabt habe. Die Farbe wisse sie allerdings nicht mehr. Auf diese Erinnerungslücke geht Bärbel Zirkel nicht näher ein. Es liegt ihr fern, Defizite aufzuzeigen, sie will die Seniorinnen stärken und zum Reden aufmuntern. „Gartentherapie greift nicht nur im kognitiven und motorischen Bereich, sondern auch im psychosozialen. Leider ist es in Heimen oft so, dass die älteren Menschen wortlos beieinandersitzen. Dadurch, dass ich da bin und sie animiere, kommt ein Gespräch in Gang, und im besten Fall fangen sie an, sich miteinander zu unterhalten.“Doch die Rolle der Animatorin ist keine leichte. Anni und zwei weitere Damen reagieren gut und machen ihren Möglichkeiten entsprechend mit. Gemeinsam suchen sie Blumen als Tischdekoration für den Essensraum aus. Eine dritte Bewohnerin sitzt scheinbar teilnahmslos auf ihrem Stuhl und schaut vorwiegend zum Fenster hinaus. Bärbel Zirkel lässt sich davon nicht irritieren und versucht, alle einzubeziehen. „Man darf nicht denken, dass jemand mit Demenz nichts mehr erlebt“, erklärt sie. „Auch Demenzerkrankte bekommen durchaus noch mit, was um sie herum passiert. Man muss sie ernst nehmen und mit Respekt behandeln.“ Und so streicht sie auch dieser Dame mit einer Papageien-Tulpe leicht über die Wange und beschreibt ihr die gezackten, fransigen Blütenblätter.
Die Pflanzen sind zweitrangig
Eine Liebe zum Menschen und zur Natur, das seien die wichtigsten Voraussetzungen für eine Gartentherapeutin, findet Bärbel Zirkel. Egal, ob diese in Kindergärten und Schulen arbeitet, Senioren- und Pflegeheimen, Psychiatrien oder Justizvollzugsanstalten. Doch der Mensch müsse immer im Mittelpunkt stehen. „Es kann zum Beispiel durchaus sein, dass eine demente Person etwas, das man gemeinsam eingepflanzt hat, am nächsten Tag wieder rausreißt. Da darf man nicht traurig sein. Entscheidend ist das Tun der Menschen in dem konkreten Moment. Was aus der Pflanze wird, ist eher zweitrangig.“
Und so gehe es auch bei einem Therapiegarten nicht darum, ihn architektonisch anspruchsvoll zu gestalten, sondern ihn vor allem auf die Zielgruppe hin pragmatisch anzulegen. Für Senioren sei es zum Beispiel wichtig, dass die Pflanzen gut erreichbar sind, erläutert Bärbel Zirkel. „Die Wege müssen mit einem Rollstuhl oder einem Rollator befahrbar sein. Hochbeete sind ideal, damit sich niemand bücken muss und Gefahr läuft, zu stürzen.“
Doch der Begriff „Gartentherapie“ bedeutet nicht, dass immer alles draußen stattfinden muss. Oft haben Einrichtungen nicht den entsprechenden Platz dafür und in der Arbeit mit älteren Menschen dauert es manchmal einfach zu lange, bis sich alle angezogen und den Weg zum Garten zurückgelegt haben. Doch wie kann Natur in Innenräumen erfahrbar gemacht werden? Diese Frage hat sich Bärbel Zirkel schon in ihrer Facharbeit im Rahmen der Ausbildung zur Gartentherapeutin gestellt. Und sie hat passende Antworten gefunden. Das zeigen ihre Angebote in der Senioren-WG in Ottobrunn. Das ganze Jahr über kann sie sich mit den Bewohnerinnen problemlos drinnen beschäftigen. Die Ideen gehen ihr dabei nicht aus: Im März werden Palmbuschen gebunden, im Juli Lavendelsäckchen gefüllt, im November Kürbisse bemalt. Gartentherapie braucht also weder zwingend einen Garten noch ist sie nur auf eine bestimmte Saison beschränkt. Wichtig sei allerdings, dass man Pflanzen verwendet, die bei den älteren Menschen Erinnerungen an Vergangenes wecken – „nichts Exotisches also, sondern Pflanzen, die einmal in ihren Lebensbereich gehört haben“.
Gartentherapie ist harte Arbeit
Ein guter Schlüssel zu Erinnerungen ist auch Musik. Daher versucht Bärbel Zirkel, mit passenden Liedern die Seniorinnen ein wenig in Schwung zu bringen. Beherzt stimmt sie einen Hit aus den 1950er-Jahren an: „Wenn der Frühling kommt, dann schick ich dir Tulpen aus Amsterdam.“ Alle singen mit, und Annis Stimme klingt dabei gar nicht mehr so brüchig und leise. Bärbel Zirkel freut das. Sie ist ein von Grund auf positiver Mensch, und ihre Augen lachen einen fortwährend durch ihre markante rote Brille an. Doch nach diesen zwei Stunden ist auch sie erst einmal geschafft. „Als ich meinen Blumenladen aufgegeben habe und komplett zur Gartentherapie gewechselt bin, war das eine große Umstellung“, erzählt die 66-Jährige. „Ich war es gewohnt, in einer bestimmten Zeit möglichst produktiv zu sein. Anfangs habe ich mir daher auch in den Therapiestunden vorgenommen, dass am Schluss jeder ein Ergebnis haben muss. Heute bin ich froh, wenn wir gemeinsam als Gruppe zum Beispiel ein schönes Kräutersträußchen gebunden haben. Diese Form der Entschleunigung musste ich erst lernen.“
Bärbel Zirkel packt ihre Naturmaterialien langsam zusammen. Die Bewohnerinnen sind zurück auf ihren Zimmern. Morgen wird sie wieder in Ottobrunn sein, in der Senioren-WG nebenan. Ob sie ihre Arbeit als Berufung empfindet? Bärbel Zirkel atmet tief aus und überlegt kurz: „Berufung – ich weiß nicht. Aber mir macht die Arbeit sehr viel Freude und sie erfüllt mich. Ich fühle mich angekommen.“
Zur Person
Bärbel Zirkel wurde 1956 in Castrop-Rauxel geboren. Sie machte eine Ausbildung zur Gärtnerin und wechselte dann zur Floristik. Verschiedene Stationen, unter anderem in Zürich und Tübingen, folgten. Seit 1983 lebt sie in München, seit 2018 ist sie als Gartentherapeutin tätig. Homepage von Gartentherapeutin Bärbel Zirkel
Weiterführende Links
- Natur tut gut – Erwachsenen wie Kindern. Die Internationale Gesellschaft Gartentherapie e.V. (IGGT) hat es sich zum Ziel gesetzt, Qualitätsstandards für den gartentherapeutischen Bereich zu definieren und aktiv für die Anerkennung und Akzeptanz dieser Therapieform zu werben.
- Auch die Gesellschaft für Gartenbau und Therapie e.V. (GGuT) will die Gartentherapie weiterentwickeln und Menschen mit Einschränkungen unterstützen, ihr Leben selbst aktiver in die Hand zu nehmen.