Meinung

Ist eine Pflegemutter eine Mutter? Erfahrungen einer „Mama aus Liebe“

Kerstin Held war 25 Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Pflegekind mit einer Behinderung aufnahm. Ihre Kinder sind ihr Leben, alles dreht sich um sie. Held ist Pflegemutter aus Überzeugung, Mama aus Liebe. Hier spricht sie über ihre Erfahrungen.
  • Kerstin Held

veröffentlicht am 25.04.2022

Bin ich eine Mama? Oder eine Mutter? Oder doch „nur“ eine Pflegemutter?

Diese Fragen beschäftigen mich und werden nur zu oft von anderen Menschen beantwortet, bevor ich sie mir selbst gestellt habe. Ich habe keines meiner Kinder geboren. Ich wurde durch einen Anruf, eine Bitte und das Lesen einer Akte zu einer Pflegemutter. Ich wurde durch eine Richterin sogar zu einer Adoptivmutter. Ich wurde durch die Kinder selbst zu einer Mama, denn sie haben mich zu ihrer gemacht.
Meine Kinder haben Mütter, und das bin nicht ich. Die Geburtsmütter meiner Kinder werden immer die Mütter sein, die meinen Kindern das Leben schenkten, und dafür bin ich ihnen dankbar.

Was sind denn „eigene“ Kinder? Gehören sie uns?

Ich wuchs mit einer Schwester mit Behinderung auf, und einen Rollstuhl neben mir zu haben, ist meine Normalität. Das war immer schon so. „Willst du keine eigenen Kinder?“, fragten mich viele Freunde, als ich im Jahr 2000 mein erstes Pflegekind mit Behinderung aufgenommen habe. Was sind denn „eigene“ Kinder? Gehören sie uns? Ich glaube, dass uns Kinder für eine Zeit an die Seite gegeben werden, um sie zu begleiten. Aber auch um voneinander zu lernen. Wir Erwachsenen sind nicht allwissend, und Kinder zeigen uns auf wundervolle Art, was wir sonst verlernen würden. „Mach doch was aus deinem Leben! Warum tust du dir das mit den Kindern an?“ Diese Frage habe ich rational in meinem Kopf verstanden, aber in meinem Herzen ist sie nie angekommen. Ich habe darauf nur eine Antwort: Ich tue das, was ich am besten kann, und es kostet mich zwar Mühe, aber niemals Überwindung.

Meine Sorgen mit Kindern mit Behinderung sind nicht größer als bei Menschen, die ein Kind begleiten, das keine Behinderung hat. Ich würde niemals die Ängste um einen geliebten Menschen aufwiegen wollen. Wenn das Kind zum ersten Mal alleine draußen spielt und nicht pünktlich nach Hause kommt. Wenn der Teenager „falsche“ Freunde hat und Alkohol und Drogen spannend werden. Diese Sorgen kenne ich nicht und möchte sie auch gar nicht kennenlernen. In meiner Normalität gibt es dafür andere, aber sie wiegen nicht schwerer.

Mein größtes Herzensgeschenk

Das tiefste Gefühl von Mama-Sein hatte ich an dem Tag, als unsere kleine Lotta über die Sternenbrücke ging. Ich nahm dieses kleine Mädchen bei mir auf, weil ihre Mutter mich inständig darum bat. Lotta kam zum Sterben in unsere Familie. Ich wollte es zu Anfang nicht, weil es das erste Kind war, was eine Mama hatte. Eine Mama, die aus tiefer Liebe zu ihren beiden Töchtern entschied, das Beste für beide Kinder zu tun. Keines sollte auf der Strecke bleiben. Beide sollten Familie leben dürfen. Durch die tiefe Liebe von Sandra zu ihrem Kind und durch ihre Dankbarkeit und Teilnahme an unserem gemeinsamen Weg machte mich Lottas Mutter zur Mama ihrer Tochter. Ein Herzensgeschenk, was mit nichts auf der Welt vergleichbar ist. Lotta starb neun Monate später behütet zu Hause in meinem Arm. „Unser Baby schläft für immer!“, sagte ich am Telefon und hörte Sandra weinen und sagen: „Sie hat es geschafft. Dankeschön! Wir lieben Euch!“

Kein Vater hat sein Kind geboren und keine Ehefrau ihren Ehemann. Kein Bruder trug seine kleine Schwester neun Monate unter seinem Herzen, und niemandem darf abgesprochen werden, diese Menschen bedingungslos zu lieben oder gar bei einem schweren Verlust trauern zu dürfen.

Um Mutter zu sein, muss man gebären. Um Mama zu sein, muss man bedingungslos lieben.

Kerstin Held

Kerstin Held, geboren 1975, wuchs im Münsterland mit ihrer zwei Jahre jüngeren schwerbehinderten Schwester auf. Die Selbstverständlichkeit von Behinderung und Pflegebedürftigkeit in ihrem Leben ebnete den Weg in ein ebenso selbstverständliches Familienleben mit schwerbehinderten Pflegekindern. Die gelernte Ergotherapeutin, Eventmanagerin und Fachberaterin für Rehabilitations- und Medizintechnik wohnt im Kreis Wesermarsch in Niedersachsen. Seit 2000 nahm Kerstin Held im Lauf der Zeit zwölf Pflegekinder mit den unterschiedlichsten Behinderungen auf, derzeit lebt sie mit vier Kindern zusammen. Seit 2014 ist sie Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V.

Der Bundesverband behinderter Pflegekinder

Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. (BbP) ist eine Selbsthilfevereinigung von Pflegeeltern, die sich für Pflegekinder mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen engagieren. Er wurde 1983 gegründet und vertritt bundesweit mehr als 550 Familien mit mehr als 1.000 Pflegekindern. Zentrales Anliegen ist die Vermittlungshilfe von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Pflegefamilien. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention hat jedes Kind das Recht, in einer Familie aufzuwachsen. Der BbP ist als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt und vertritt die Interessen behinderter Pflegekinder und ihrer Pflegeeltern auch im politischen, sozialrechtlichen und gesellschaftlichen Bereich.


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