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Leben ohne Auto

Das Auto ist aus unserem Alltag kaum wegzudenken. Doch die Probleme, die der Autoverkehr verursacht, sind immens. Dabei gibt es Alternativen. Wir stellen Familien vor, die autofrei leben und damit sehr zufrieden sind.

veröffentlicht am 31.08.2017

Es gab eine Phase in unserem Familienleben, da habe ich mir nichts mehr gewünscht als ein Auto. Unsere Tochter war im Kindergarten, unser Sohn in der Krippe, die Einrichtungen lagen jeweils gut zwei Kilometer von unserem Haus entfernt, nur dummerweise in unterschiedlichen Richtungen. Die Kinder morgens wegzubringen, egal ob zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Bus, dauerte insgesamt etwa anderthalb Stunden. Nachmittags das Ganze nochmal. An drei Tagen pro Woche musste ich nach der Morgen-Tour pünktlich an der S-Bahn sein, um zur Arbeit zu fahren. Mein Leben war, gefühlt und buchstäblich, ein einziger Dauerlauf. Besonders verzweifelt war ich bei Schnee oder Regen.

Immer wieder haben wir während dieser Zeit darüber nachgedacht, zumindest übergangsweise ein Auto zu kaufen oder zu leasen. Und uns doch immer wieder dagegen entschieden. Der Hauptgrund waren damals die hohen Kosten. Heute, etwa zehn Jahre später, leben wir immer noch – und damit seit insgesamt mehr als 20 Jahren – autofrei. Und sind damit sehr zufrieden.

Zehnmal mehr Autos als 1960

Alle Strecken bei uns im Viertel, am nördlichen Stadtrand von München, legen wir mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurück. Für weitere Entfernungen nehmen wir Bus, S- oder U-Bahn. Größere Transporte oder Fahrten, die ohne Auto nicht oder nur schwer möglich sind, erledigen wir mit einem Fahrzeug des Carsharing-Vereins, bei dem wir Mitglied sind. Selten gönnen wir uns ein Taxi. In den Urlaub gehts meistens mit der Bahn.

Ein Leben ohne Auto – für viele Menschen in Deutschland ist das kaum vorstellbar. Und das ist auch kein Wunder. Schließlich ist das Auto aus unserem Alltag kaum wegzudenken. 45,8 Millionen Personenkraftwagen sind in Deutschland derzeit gemeldet. Zum Vergleich: Im Jahr 1960 waren es nur knapp 4,5 Millionen. Zählt man alle gemeldeten Kraftfahrzeuge zusammen, kommt man, so die aktuellen Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes, auf etwa 680 Fahrzeuge pro 1.000 Einwohner.

Zugleich sind die Menschen durchaus offen für Alternativen. Eine Studie des Umweltbundesamtes hat ergeben: 82 Prozent der Deutschen wünschen sich, dass Städte und Gemeinden so umgestaltet werden, dass man kaum noch auf das Auto angewiesen ist. Eins der möglichen Alternativangebote, das Carsharing, erfährt seit Jahren einen regelrechten Boom, die Zahl der Carsharing-Nutzer steigt kontinuierlich an. Im vergangenen Jahr waren nach Angaben des Bundesverbands CarSharing mehr als 1,7 Millionen Kunden bei deutschen Carsharing-Anbietern registriert, satte 36 Prozent mehr als noch 2015.

Auf dem Land ist die Lage schwieriger

Und eine letzte Zahl, die aufhorchen lässt: Während Mitte der 90er-Jahre noch fast die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 18 bis 29 Jahren einen eigenen Wagen besaß, zählt heute nur noch etwa ein Viertel dieser Altersgruppe zu den amtlich registrierten PKW-Haltern. Junge Menschen sehen das eigene Auto nicht mehr als unbedingt notwendig an, auch als Statussymbol hat es weitgehend ausgedient.

Was allerdings bei all diesen Entwicklungen zu berücksichtigen ist: In der Großstadt lebt es sich recht gut ohne Auto, wenn man sich auf die Alternativen einlässt. Auf dem Land sieht die Sache anders aus. „Es gibt in vielen Gegenden keinen guten öffentlichen Verkehr“, erklärt der Verkehrswissenschaftler und Autor Bernhard Knierim. Er fordert: „Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, mobil zu sein ohne eigenes Auto.“ Das zu gewährleisten, sei Aufgabe des Staates.
Der Wissenschaftler selbst lebt mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern im brandenburgischen Werder an der Havel, einer Kleinstadt mit etwa 25.000 Einwohnern. Ohne eigenes Auto. Die Voraussetzungen sind ideal: Wohnen in einer Genossenschaft mit etwa 150 Mitgliedern. Ausgezeichnete Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Eine Einkaufs-Kooperation, die es den Genossenschaftlern ermöglicht, sich vom Großhandel mit Lebensmitteln beliefern zu lassen. Und die Möglichkeit, bei Bedarf auch kurzfristig bei Nachbarn ein Auto zu leihen.

Auftrag, die Schöpfung zu bewahren  

Knierim ist sich dieser guten Ausgangssituation für den autofreien Alltag der Familie durchaus bewusst. Doch er ist auch überzeugt, dass viel mehr Menschen als bisher die Möglichkeit zu einem solchen Leben hätten. In seinem privaten Umfeld in der Genossenschaft wie auch durch seine Arbeit möchte Knierim Menschen zu einem Leben ohne Auto ermuntern – und die Politiker dazu bewegen, endlich die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Viele Menschen, hat Knierim festgestellt, wagten den Schritt, „wenn das Auto kaputtgeht und man überlegt, ob man es wirklich braucht“, so der Verkehrsexperte. „Auch ein Umzug ist eine gute Möglichkeit, das eigene Mobilitätsverhalten zu überdenken.“
   Kein TÜV mehr für den alten Wagen – was nun? Vor genau dieser Frage standen vor 20 Jahren auch Erwin Eisenhardt und seine Frau. Die beiden Töchter waren fünf und sieben Jahre alt. Nach einer einmonatigen Testphase ohne Auto entschied sich das Ehepaar klar gegen die Anschaffung eines Wagens. Aus „christlichen Gründen“, erklärt der gelernte Elektriker. „Es ist unser Auftrag, die Schöpfung zu bewahren.“ Schon damals hätten er und seine Frau es sich zum Ziel gesetzt, weniger CO2 auszustoßen. „Unsere Aufgabe ist es, so zu leben, dass es auch nach uns noch eine lebenswerte Welt gibt“, sagt der 63-Jährige.

Einen Versuch ist es wert

Auch die Eisenhardts leben in einer Kleinstadt, in Renningen in Baden-Württemberg, mit 17.000 Einwohnern. Auch sie nutzen den öffentlichen Nahverkehr und Carsharing, fahren mit dem Fahrrad und mit dem E-Bike oder gehen zu Fuß. Das Leben ohne Auto erleben sie als „sehr entspannt“, so Eisenhardt. „Man braucht sich nicht mehr um ein Auto kümmern, muss nicht zur Werkstatt fahren, muss es nicht putzen, muss nicht zum TÜV. Wenn die Kinder den Führerschein haben, muss man sich nicht mit ihnen um das Auto streiten oder ein Zweit- oder Drittauto anschaffen. Wenn man ein Auto braucht, bucht man es einfach über den Computer oder die Smartphone-App.“

In München und auch anderswo werden wir immer noch häufig mit großen Augen angeschaut, wenn wir erzählen, dass wir kein Auto haben. „Wie macht ihr das?“, ist dann die Frage. Auf der anderen Seite tut sich was, auch bei uns im Viertel: Unsere Nachbarin hat sich gerade ein Lastenfahrrad angeschafft, das sie so oft wie möglich statt des Autos für Einkäufe und andere Transportfahrten einsetzen möchte. Eine Familie ein paar Häuser weiter hat beschlossen, ihren defekten Zweitwagen abzumelden und nicht zu ersetzen.
„Was im eigenen Leben praktisch umsetzbar ist, muss jeder selbst für sich herausfinden und entscheiden“, schreibt Bernhard Knierim. Niemand könne alles umsetzen. Aber wer seine Mobilität bewusster gestalte, zeige, „dass es möglich ist, anders mobil zu sein, und dass damit nicht immer nur ein Verlust, sondern oft auch ein Gewinn an Lebensqualität einhergeht“.

Cover Ohne Auto leben

Zum Weiterlesen: Viele Menschen können sich ein Leben ohne Auto nicht vorstellen. Andere wünschen sich weniger Autoverkehr. Denn die Probleme sind unübersehbar. Der Verkehrswissenschaftler Bernhard Knierim liefert praktische Hinweise und Anleitungen für einen Alltag ohne Auto. „Ohne Auto leben. Handbuch für den Verkehrsalltag“ von Bernhard Knierim (Promedia Verlag, € 14,90).

(Familien-)leben ohne Auto

Was es bringt

  • mehr Zeit: keine Reparaturen, TÜV, Putzen etc., keine langwierige Parkplatzsuche
  • mehr Gesundheit durch regelmäßiges Gehen und Fahrradfahren
  • mehr Geld für andere Dinge
  • Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr lassen sich als Arbeits- oder Pausenzeiten nutzen
  • man übernimmt Verantwortung für das eigene Handeln, für die Stadt, für das Klima, für die nächsten Generationen – und gibt dieses Bewusstsein auch an die Kinder weiter
  • mehr Freiheit: kein weiteres Objekt, um das man sich kümmern muss
  • keine spontanen, möglicherweise überflüssigen Einkaufsfahrten
  • mehr Freizeit durch weniger Aktionismus

Was nervt

  • keine spontanen Fahrten zu Orten, die ohne Auto nicht erreichbar sind
  • bei Regen oder Schnee fürs lange Wochenende einkaufen
  • alle Wege genau planen müssen
  • einige Aktivitäten müssen ausfallen, weil sie ohne Auto nicht oder nur schwer zu erreichen sind
  • die S-Bahn ist weg und die nächste fährt erst in 20 Minuten
  • für einige Wege, die man mit dem Auto schnell zurücklegen könnte, braucht man öffentlich viel länger

Viele Argumente und Hilfen für ein autofreies Leben sowie aktuelle Infos, Materialien, Angebote und Aktionen bietet der Verein „autofrei leben!".


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