Selbstfürsorge

Liebe Eltern, lasst euch helfen!

Zu Sankt Martin hören wir wieder, dass es gut ist, anderen zu helfen. Aber wie ist das eigentlich umgekehrt? Inwiefern ist es wichtig, sich helfen zu lassen? Warum das gerade Eltern oft schwerfällt und was es ihnen bringt, wenn sie es tun.

veröffentlicht am 21.10.2021

Eine zufällige Begegnung mit einer Bekannten im Frühsommer dieses Jahres. Sie schiebt ihr Fahrrad die Straße entlang, ihre jüngste Tochter sitzt im Kindersitz. „Wie geht es dir?“, frage ich. „Frag nicht“, antwortet sie. „Ich funktioniere nur noch.“ Sie erzählt von ihrem Alltag mit Mann, drei Kindern, Haus und Hund. Davon, dass sie im Herbst vergangenen Jahres wieder angefangen hat, zu arbeiten. Von den speziellen Herausforderungen der Corona-Zeit. Ihr Fazit: „Ich habe nichts mehr, auf das ich mich freuen kann.“

So wie dieser Bekannten geht es vielen Müttern. ­Eltern stehen enorm unter Druck. Unter anderem führen gesellschaftliche Rahmenbedingungen, sich wandelnde Rollenbilder, finanzielle Sorgen und gestiegene Ansprüche der Eltern an sich selbst zu Belastungen. Corona hat die bestehenden Probleme noch verstärkt. „Es gibt einfach diese Mehrfachbelastung“, erklärt Doris Lindner von der Partner- und Familienberatung der Erzdiözese Salzburg. In vielen Familien seien beide Eltern berufstätig. Hinzu käme, dass oft ein Netzwerk fehlt. „Früher hat es ein Riesenfamiliensystem gegeben, einen großen Freundeskreis, die Nachbarschaft war da. Heutzutage sind die Familien isolierter“, sagt die Sozialarbeiterin. Viele Eltern hätten nicht die Zeit, soziale Kontakte zu pflegen und Freundschaften aufzubauen. In den Städten achteten Nachbarn oft weniger aufeinander, als dies in Dorfgemeinschaften häufig der Fall sei. Um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen, falle vielen Müttern und Vätern schwer. Es gebe ihnen das Gefühl, versagt zu haben, so Lindner. „Ich glaube, es ist mittlerweile schon ein gewisser gesellschaftlicher Druck da. Dass man also sagt, die, die sich helfen lassen, schaffen es nicht alleine.“

Bei bestimmten Symptomen müssen die Alarmglocken läuten

Die hohen Anforderungen und der Druck von außen bringen Eltern, vor allem Mütter, oft an ihre Grenzen. Mit ernst zu nehmenden Folgen. „Erste Anzeichen einer großen Erschöpfung werden bei Müttern häufig nicht erkannt“, schreibt die Kinderärztin Karella Easwaran in ihrem Buch „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ (Kösel Verlag). Niemand fände es erwähnenswert, wenn sie ständig übermüdet, erschöpft und gestresst seien. „Viele denken, das sei normal – auch die Mütter selbst.“ Weil vielen Müttern Erholungsphasen fehlen, bleibe es nicht bei kurzzeitigen und schnell überwundenen Überforderungssituationen. „Anhaltende Traurigkeit, Dauer-erschöpfung und chronische Gereiztheit müssen die Alarmglocken läuten lassen! Denn dies bedeutet: Hier braucht jemand dringend Unterstützung.“

Unterstützung. Hilfe. Das könnte eine Lösung sein. Dass Eltern sich Hilfe holen, wenn’s brennt, am besten schon vorher. Aber das ist gar nicht so einfach. Denn Hilfe anzunehmen, ist schwierig, viel schwieriger, als zu helfen. Das weiß jeder, der schon mal mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag. Anderen zu helfen, gilt als Tugend und schafft ein gutes Gefühl. Sich helfen zu lassen, ist mit Hemmungen verbunden. Auch Scham spielt eine Rolle.

Unterstützung anzunehmen, ist kein Zeichen von Schwäche

„Es gibt kaum eine Mutter, die sich nicht mehr Unterstützung wünschen würde und diese auch gut gebrauchen könnte“, schreibt Easwaran. Dass einige Mütter sich schwer damit tun, Hilfe anzunehmen, habe unterschiedliche Gründe: „Eine Mutter will vielleicht beweisen, dass sie es allein schafft, weil sie befürchtet, dass ihr Hilferuf als Schwäche ausgelegt werden würde. Die andere ist damit aufgewachsen, immer alles allein zu stemmen, kennt es nicht anders und kommt gar nicht auf die Idee, sich Unterstützung zu suchen. Die nächste hat kein ­Vertrauen in dritte.“ Wobei zu diesen „dritten“ häufig auch die ­Väter zählen. Die Ärztin ruft Mütter ausdrücklich dazu auf, mit den Männern gemeinsame Sache zu machen und sie nicht, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Erziehungsalltag auszuschließen.

Sie verweist in ihrem Buch auf das bekannte Sprichwort „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ und betont: „Mit dem Begriff ist nicht die klassische Dorfstruktur gemeint, sondern ein soziales Netzwerk. Dieses ist wichtig, damit das Kind vieles bekommt, was es zum Erwachsenwerden braucht, die Mutter die nötige Unterstützung erhält und sich die Familie auf eine gesunde und ausgeglichene Weise entwickeln und ihre Vision verwirklichen kann.“ Easwaran empfiehlt Müttern, am besten schon während der Schwangerschaft zu überlegen, wie dieses soziale Netzwerk oder Dorf aussehen kann. „Scheuen Sie sich nicht davor, Unterstützung anzunehmen“, sagt sie, „das ist kein Zeichen von Schwäche.“

Hilfsmöglichkeiten sind da. Ob im privaten Umfeld oder bei staatlichen, kirchlichen oder anderen Institutionen. Doch die Hürden, sie in Anspruch zu nehmen, scheinen noch sehr hoch zu sein. Und tatsächlich hat traditionell das Helfen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen höheren Stellenwert als das Sich-helfen-Lassen. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, heißt es schon bei Johann Wolfgang von Goethe. Gerade im christlichen Umfeld galt und gilt es häufig als erstrebenswert, selbstlos zu sein, immer zuerst an die anderen zu denken und die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen. Aber inwiefern ist so ein Anspruch wirklich christlich – oder eben nicht?

Selbstliebe und Nächstenliebe gehören zusammen

„Ich vertrete den Ansatz ‚Geben und Nehmen‘“, sagt Familienberaterin Doris Lindner. „Wenn man immer nur gibt, fehlt das Nehmen. Ich glaube, man muss auch mal dem anderen die Chance des Gebens lassen.“ Wer es schaffe, sich trotz anfänglicher Hemmungen darauf einzulassen, könne innerlich wachsen. „Das vermittelt auch das Gefühl von Gehaltensein.“ Nächstenliebe und Selbstliebe gehörten für sie – gemäß dem biblischen Gebot der Nächsten- und Selbstliebe – zusammen. Gerade für Eltern sei es enorm wichtig, achtsam auf sich selbst zu schauen und für sich zu sorgen. Zeiten zu finden, in denen sie nur für sich etwas tun. Ob das der Kaffee am Morgen in Ruhe ist, eine Yoga-Einheit von zehn Minuten oder ein Spaziergang mit einer Freundin. „Ich glaube, es sind ganz kleine Dinge, die für die Selbstfürsorge wichtig sind“, so die Beraterin. „Es kann den Kindern nur gut gehen, wenn es den Eltern gut geht.“

Wenn Eltern gut für sich selbst sorgen, tun sie also auch ihren Kindern etwas Gutes. Je zufriedener Mamas und Papas selbst sind, desto besser geht es auch dem Rest der Familie. Um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen, trägt zu einem ausgeglicheneren und glücklicheren Familienleben bei. Und zeigt auch den Kindern: Anderen zu helfen, ist wichtig. Sich helfen zu lassen, auch.

Sankt Martin mal umgekehrt – 5 Tipps für Eltern

1. Alles hat seine Zeit. Mal ist eher Geben dran und mal Nehmen. Beides gehört zusammen.   
2. Suchen Sie sich Unterstützung, wenn Sie sich überfordert fühlen. Um Hilfe zu bitten, ist kein Zeichen von Schwäche.
3. Vertrauen Sie den Menschen, die Sie unterstützen – auch wenn sie vielleicht manches anders machen als Sie selbst.
4. Es gibt zahlreiche Hilfsangebote für Eltern und Familien. Informieren Sie sich und prüfen Sie, was für Sie am besten passt.
5. Lieben Sie sich selbst. Nur wenn Sie gut für sich sorgen, können Sie auch gut für andere sorgen.

Zitat

„Pu, was war das Mutigste, was du jemals gesagt hast?" fragte Ferkel. „Ich brauche Hilfe“, sagte Pu.
Aus „Pu der Bär“ von Alan Alexander Milne


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