Neues wagen
Strahlende Retterin: Sozialunternehmerin Günes Seyfarth
Günes Seyfarth will etwas bewirken. Sie gründete unter anderem eine Kita, eine Online-Plattform für gebrauchte Kinderkleidung – und sie rettet Lebensmittel. In ihrer Community Kitchen in München werden gerettete Lebensmitteln verwertet und angeboten.
veröffentlicht am 22.11.2023
Wer sich den Lebenslauf von Günes Seyfarth anschaut, merkt schnell: Da ist eine Powerfrau am Werk, eine Macherin, eine Seriengründerin, eine leidenschaftliche Unternehmerin. Wer sie trifft und mit ihr spricht, versteht, warum sie das tut, was sie tut. Es kommt von innen, sie kann nicht anders. Sie will etwas bewirken.
Und das tut sie. Die Mutter von drei Kindern gründete unter anderem eine Kita, eine Online-Plattform für gebrauchte Kinderkleidung und eine Firma, die gesunde Snacks produziert. Sie war an der Gründung des Vereins Foodsharing München beteiligt. Zusammen mit einer Geschäftspartnerin rief sie die im Februar vergangenen Jahres eröffnete Community Kitchen in München ins Leben. In der Küche mit eigenem Restaurant werden vor dem Müll gerettete Lebensmittel verarbeitet und zu sozialverträglichen Preisen angeboten.
In der Community Kitchen an einem Tisch am Fenster gegenüber der Speisenausgabe erzählt Günes Seyfarth begeistert über ihre Arbeit und ihre Motivation. „Ich bin mir über die Endlichkeit meines Lebens bewusst“, sagt die 43-Jährige. „Ich versuche, ganz viel an einem Tag zu erreichen.“ Das könnten kleine Sachen sein oder große. Wichtig sei, dass am Ende etwas dabei herauskommt. „Ich muss was machen, sonst werde ich krank. Es ist für mich heilend, positiv.“
Zwei Gerichte pro Tag, außerdem Salate und Kuchen
Das Projekt Community Kitchen entstand aus einer fixen Idee. Eine Bekannte hatte Seyfarth auf ein leer stehendes und für eine Zwischennutzung ausgeschriebenes Gebäude im Münchner Stadtteil Neuperlach aufmerksam gemacht. 15.000 Quadratmeter Gewerbeflächen auf drei Stockwerken in einem als problematisch geltenden Viertel, umgeben von mehrspurigen Straßen, einen Block entfernt von Münchens größtem Einkaufszentrum.
Bei einem Ortstermin mit Interessenten skizzierte Seyfarth ihre Idee – Lebensmittel retten, verwerten und verteilen – und bekam den Zuschlag. Im Sommer 2021 startete der Mietvertrag, im September desselben Jahres wurde unter dem Namen „Shaere“ das Gebäude mit Empfangsbereich, Verwaltung und Gemeinschaftsräumen wie Kino, Kreativwerkstatt und Lernothek in Betrieb genommen. Im Februar 2022 empfing das Restaurant die ersten Gäste.
Montags bis freitags und sonntags gibt es dort wechselnde frisch zubereitete Gerichte aus geretteten Lebensmitteln. „Aufessen, was eh schon da ist“ lautet das Motto. Je zwei Gerichte pro Tag stehen auf der Karte, außerdem immer Salate, hausgemachte Kuchen und Kaffee. In einem Onlineshop werden Suppen, Eintöpfe und Marmeladen im Glas angeboten. Die sogenannte Retterquote, der Anteil an geretteten Lebensmitteln, ist bei jedem Gericht und auf jedem Glas angegeben. Bei fast jedem Produkt liegt sie bei mehr als 90 Prozent. 15.000 Kilogramm Lebensmittel pro Woche rettet das Unternehmen nach eigenen Angaben. Zum Haus gehören auch Bildungsangebote und Initiativen wie die „Strick-Omis“, die Decken und andere Dinge für Bedürftige stricken.
Lebensmittel retten für den Klimaschutz
Ihre Erwartungen an die Community Kitchen wurden übertroffen, schwärmt Seyfarth. „Das Schöne ist, zu sehen, wie das Projekt sich verstetigt und dass der Spirit vom Anfang noch da ist, als man nicht wusste, wie es sich entwickelt.“ Die Zwischennutzung läuft noch bis Ende 2024. Was danach kommt, liegt nicht in der Macht der Gründerinnen. Fest steht: Sie möchten das Restaurant so lange wie möglich erhalten.
Zugleich ist schon ein Erweiterungsprojekt in Planung. In einem ehemaligen Kaufhaus am Münchener Stachus, das ebenfalls gerade zur Zwischennutzung zur Verfügung steht und von unterschiedlichen kulturellen und anderen Anbietern bespielt wird, eröffnet die Community Kitchen im Erdgeschoss eine Tagesbar. Losgehen soll es, Stand Oktober, noch im November. Dass der neue Gastronomiebetrieb im Zentrum der bayerischen Landeshauptstadt liegt, gefällt Seyfarth sehr. „Wir wollen in die Mitte der Gesellschaft mit unserem Thema, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren.“ Das Angebot sei örtlich in der Mitte der Gesellschaft. „Wir freuen uns mega.“
Ohnehin hat das Thema Lebensmittelrettung es Günes Seyfarth angetan. Weil sie es für enorm wichtig hält und weil es ihr Spaß macht. Aus wissenschaftlicher Sicht sei die Reduktion von Lebensmittelverschwendung die wirksamste Maßnahme im Klimaschutz. „Alles, was in Lebensmittel reingeht, Wasser, Energie, Abgase, Pestizide, Dünger, Menschenkraft, Verpackung, Transport, ist zu mindestens einem Drittel umsonst“, erklärt Seyfarth. Sie selbst rettet seit mehr als zehn Jahren, anfangs privat, inzwischen beruflich. Nach Anmeldung holt sie vom Münchner Großmarkt oder direkt bei Erzeugern Waren ab, die sonst im Müll landen würden. Anders als beim Containern ist diese Art der Rettung mit den Firmen abgestimmt und unterliegt bestimmten Regeln, zum Beispiel zur Hygiene. Obst, Gemüse, Brot, Wurst, Käse und weitere Lebensmittel werden kistenweise bereitgestellt und von den Retterinnen und Rettern verladen. Die Kisten gehen beim nächsten Mal an den Betrieb zurück. „Es macht mir immer noch Freude wie am ersten Tag“, so Seyfarth. „Es ist wie Weihnachten. Es ist urbanes Bauernsein. Du bist mit den Händen im Lebensmittel.“ Auf diese Weise habe sie das Gefühl, sich selbst versorgen zu können – auch wenn das natürlich nicht so sei, aber „so fühlt es sich ein bisschen an“.
Nicht Arbeit und Freizeit, sondern Lebenszeit
Angesichts ihrer vielen Aktivitäten stellt sich natürlich die Frage, wie Seyfarth es schafft, berufliche und private Anforderungen unter einen Hut zu bekommen. „Wir sind im Grunde ein Vorzeigebeispiel für eine gleichberechtigte Partnerschaft zu Hause“, erklärt Seyfarth. Ihr Mann, der freiberuflich als Fotograf arbeitet, „weiß von Dingen, von denen ich nichts weiß, weil er sie organisiert“. Sie habe nicht, wie es die Gesellschaft vielleicht erwarte, die Hoheit über Familienthemen wie Essen, Kleidung oder Freizeitaktivitäten ihrer Kinder, sondern teile sich die Aufgaben mit ihrem Mann. Wichtig sei, dass sie beide sich intern gut miteinander absprechen, damit möglichst keine Information verloren geht. „Ich weiß, ich könnte jetzt vier Wochen weg sein und wüsste, meiner Familie geht’s gut“, so Seyfarth.
Dass diese Konstruktion so gut gelingt, hängt sicherlich auch mit einer Entscheidung zusammen, die Seyfarth bereits vor einiger Zeit für sich getroffen hat. „Ich habe vor vielen Jahren mit der Aufteilung in Arbeit und Freizeit aufgehört und Lebenszeit daraus gemacht“, erklärt sie. Das, was sie tue, tue sie „wahnsinnig gerne“. Deshalb ist es für sie auch normal und völlig in Ordnung, abends oder im Urlaub zu arbeiten. Gerade im Urlaub finde sie oft die nötige Ruhe und Distanz für neue Ideen. Generell macht sie, was möglich ist, und setzt sich dabei nicht unter Druck. „Wenn ich Dinge nicht schaffe, dann ist es halt so. Ich bin voll im Reinen mit mir.“ Wichtig sei, dass sie ihre Prioritäten immer wieder neu festlegen könne. Aktuell hat sie sich zum Beispiel vorgenommen, mehr für ihre körperliche Fitness zu tun. Sie möchte Kraulen lernen und dann abwechselnd zum Schwimmen, Joggen, Walken und Krafttraining gehen. „Früher hätte ich das zu meinem Pensum noch reingequetscht“, sagt sie. Jetzt streiche sie dafür andere Dinge aus ihrer To-do-Liste.
Einfach entscheiden, einfach machen. Wenn Seyfarth erzählt, klingt das alles sehr klar und fast selbstverständlich. Warum tun sich aber viele Menschen so schwer damit, ihre Ziele umzusetzen, ihren Bedürfnissen zu folgen, etwas Neues zu wagen – einfach zu machen? „Ich glaube daran, dass unsere Gesellschaft als Ganzes besser wird, wenn jeder Einzelne besser wird, reflektierter wird, sich mehr traut, die Endlichkeit seines Lebens mehr begreift“, ist Seyfarth überzeugt. Sie selbst habe das auch durch ihren Bruder, der das Downsyndrom hat, gelernt. Viele Menschen lebten so vor sich hin, dächten in Kategorien wie Freizeit, Arbeitszeit, Überstunden, anstatt sich zu fragen, was die Grundessenz des Lebens ist. „Ich würde sagen, es ist Hingabe“, so Seyfarth. Sie selbst lebe ganz im Moment. Wenn sie mit jemandem im Gespräch sei, sei sie nur bei dieser Person. Wenn sie Kaffee koche, sei sie beim Kaffee.
Hingebungsvoll leben
Bei diesem Im-Moment-Sein hilft ihr die Meditation. Seyfarth, die offiziell Muslima ist, aber nicht praktiziert, meditiert regelmäßig und sieht darin durchaus Parallelen zum Beten. Und da kennt sie sich aus. Sie hat in Nürnberg das Gymnasium der Maria-Ward-Schwestern besucht. Nonnen hätten sie gefühlt immer begleitet. „Ich bin gläubig, nicht religiös. Ich glaube an eine spirituelle Kraft. Die einen nennen es Gott, die anderen Allah, die anderen wie auch immer. Ich fühle mich sehr verbunden zu allem.“ Mit den „Strick-Omis“, von denen die meisten katholisch sind, spricht sie über alles Mögliche, auch über Religion. Dabei stellen sie immer wieder fest, dass sie die gleichen Themen haben, die gleichen Werte. „Es geht um Hingabe, jeder aus einer anderen Perspektive. Es geht um Beten, Meditieren, Gutes-Tun oder auch nicht, Reflektieren, Still-Sein.“ Sie findet das spannend. Was sie nicht mag, ist, wenn Institutionen Menschen einsperren, unfrei machen. Damit meint sie durchaus nicht nur die Kirchen, sondern auch die Arbeitswelt, das Bildungssystem und andere Systeme in der Gesellschaft und in der Wirtschaft. Sie ist überzeugt: „Wenn Menschen mehr begreifen, dass das Leben lebenswerter ist, wenn man hingebungsvoll lebt, tut, arbeitet, isst, liebt, dann steigert das den Wert des Lebens so enorm.“
Und noch etwas hat sie gelernt, das ihr das Leben leichter macht. „Das Gehirn kann nicht unterscheiden zwischen real und Fake“. Das heißt, sie selbst ist Herrin über ihre Gefühle, sie kann entscheiden, wie sie bestimmte Situationen für sich bewertet. Wenn ihr die Straßenbahn vor der Nase wegfährt oder sie im Stau steht, lässt sie sich davon nicht die Laune verderben, sondern sieht das Ganze von der positiven Seite. Sie glaubt daran, dass die Verzögerung in diesem Moment für etwas gut ist, dankt für die gewonnene Zeit und nutzt sie für sich. Bluttests hätten ergeben, so Seyfarth, dass Emotionen nach 90 Sekunden im Blut nicht mehr nachzuweisen sind, also faktisch aus dem Körper verschwunden sind. „Nach 90 Sekunden bin ich im Blut nicht mehr wütend. Wenn ich es dann trotzdem noch bin, ist das gewollt.“ Natürlich sei sie mal eine Minute schlecht drauf, oder auch mal fünf Minuten, aber dann ändere sie bewusst ihren Fokus.
Günes Seyfarth wirkt präsent, wach und fröhlich, wenn sie so dasitzt in ihrem bunt geblümten Oberteil und erzählt. Ihr Blick ist offen, ihre Augen glänzen. Die grau melierten, naturgewellten Haare trägt sie offen. Ob sich manchmal Menschen eingeschüchtert fühlen neben ihr? Klein, schwach, ungenügend neben so einer starken Frau? Sie versteht sofort, wie die Frage gemeint ist, kennt solche Situationen. Früher, sagt sie, habe sie mit Scham darauf reagiert. „Ich habe gedacht, Günes, du darfst jetzt nicht so laut, so scheinend, strahlend sein. Mittlerweile denke ich, die Vorbildfunktion ist die mächtigste Waffe, die wir haben.“ Günes Seyfarth möchte zeigen, wie sie sich die Gesellschaft wünscht. Und sie möchte sie selbst sein. Deshalb traut sie sich, zu strahlen. Und das passt. Ihr türkischer Vorname Günes bedeutet Sonne.
Zur Person
Günes Seyfarth, geboren 1980, gründete unter anderem die Kita Karl & Lisl, die Plattform Mamikreisel für gebrauchte Kinderkleidung, die Firma Fruitiverse und das Restaurant Community Kitchen, das Gerichte aus geretteten Lebensmitteln verkauft. Sie ist Key-Note-Speakerin und Vortragsrednerin und gibt ihr Wissen und ihre Erfahrungen an andere Gründerinnen und Gründer weiter. Auch im Bildungsbereich ist sie aktiv. Stark geprägt wurde sie von ihrer Mutter, die als 17-Jährige aus der Türkei nach Deutschland gekommen war, sowie von ihrem Bruder, der das Downsyndrom hat. Seyfarth lebt mit ihrem Mann, einem freiberuflichen Fotografen, und drei Söhnen im Alter von 9, 12 und 14 Jahren in München.