Ausnahmesituation

Im Tunnel: Wie Angststörungen Kinder und die ganze Familie belasten

Wie sehr Kinderseelen unter Corona leiden, zeigt die Zunahme von Ängsten und psychischen Erkrankungen. Unsere Autorin Janina Mogendorf erzählt die Geschichte ihrer Tochter Lisa, die es mitten in der Pandemie traf.

veröffentlicht am 20.02.2023

Lisa* war ein aufgewecktes Kleinkind, unerschrocken und immer unterwegs. Im Park lief sie jedem Tier hinterher – egal, ob Taube oder Bordeauxdogge. In der Bahn flirtete sie vom Buggy aus mit den Leuten und im Kindergarten dachte sie sich tolle Rollenspiele aus. Zugleich war sie sensibel und zog sich gerne in ihre Welt zurück. Darin kamen Einhörner und Elfen vor, aber auch Monster und dunkle Schatten, die sie nachts ins Elternbett scheuchten.

Lisa wurde älter, kam in die Schule. Sie traf Freunde, ging reiten und schwimmen. Sie hasste Mathe und liebte Kunst. Noch immer zog sie sich gerne zurück, versank in Playmobil-Welten, um darüber die lästigen Hausaufgaben zu vergessen. „Ich habe eine glückliche Kindheit“, sagte sie einmal auf einem Waldspaziergang zu mir. Als Lisa acht war, kam Corona. Zunächst wuchs das Glück, denn die Schule fiel aus. Das Wetter zeigte sich im Lockdown von seiner besten Seite und die Familie rückte zusammen. Wir versuchten, die Zeit für unsere Tochter so angenehm wie möglich zu gestalten, waren viel mit ihr draußen in der Natur. Lisa traf sich mit ihrer besten Freundin, zu anderen hielten wir Videokontakt. Niemand erkrankte im näheren Umfeld. Und dann begann die Schule wieder. Mal in Distanz am Tablet, mal in Präsenz mit Maske, Covid-Tests und getrennten Pausen. Die Regeln änderten sich oft, meist über Nacht. Normal war das alles nicht, aber es lief.

Die erste Panikattacke

So dachten wir. Tatsächlich aber nahm sich Lisa die immer länger dauernde Ausnahmesituation zu Herzen und vergrub ihre Sorgen unter einem Berg von Schleich-Pferden. Für uns Große gab es Corona erst ein paar Monate, in kindlicher Zeitrechnung fühlte sich das unendlich lang an. Weihnachten kam – und dann der nächste Lockdown mit Distanzunterricht. Alltag in der Pandemie.

Bis zu diesem einen Nachmittag. Lisa sollte für den Sachunterricht eine Kettenreaktion aufbauen. Die ganze Familie machte mit. Es dauerte Stunden, Dominosteine, CDs und Murmelbahnteile so aneinanderzureihen, dass alles funktionierte. Irgendwann wurde es anstrengend, die Stimmung kippte. Gerade durchsuchten wir das Haus nach einem verschwundenen Matchboxauto für den Antrieb, da hörte ich Lisa laut weinen. Wir fanden sie im Badezimmer auf dem Boden, wo sie sich vor- und zurückwiegte. „Ich weiß nicht, wer ich bin und wo ich bin. Ich kann nicht mehr denken“, rief sie verstört. Ich nahm sie in den Arm. Ihr Herz raste, ihr Atem ging schnell. Ich hatte Lisa noch nie so gesehen und konnte die Situation nicht einordnen. In meiner Not googelte ich „Hilfe bei Panikattacken“. Mein Mann setzte sich mit ihr aufs Sofa, ich brachte ein Kühlpack. Nach einer langen Weile wurde Lisa ruhiger.

Es war der Auftakt einer Reihe von Anfällen, die uns im folgenden Jahr begleiten sollten und die Lisa „Tunnel“ nennt. „Es ist ein Gefühl, als ob ich aus der Wirklichkeit falle. Wie unter Wasser. Ich kann nicht richtig sehen und habe das Gefühl, gleich umzukippen“, beschrieb Lisa ihre Symptome. Ein Zustand, der sie in Panik versetzte. Unser erster Weg führte zum Kinderarzt. Der checkte sie durch und schickte sie zum EEG, zum EKG und zum Augen­arzt. Glücklicherweise blieb alles ohne Befund und so wurde eine Angststörung diagnostiziert. Auch Lisa erschien das plausibel. Nach und nach begann sie, sich zu öffnen und von ihren Sorgen zu erzählen. Von ihrer Angst, die Großeltern anzustecken, ihrer Befürchtung, alle Ladenbesitzer würden im Lockdown auf der Straße landen. Einmal malte sie ein Gehirn mit ihren Gedanken darin. Corona bedeckte fast die ganze Fläche und hatte alles Schöne zur Seite gedrängt.

Trigger und Kontrollverlust

Die Tunnel kamen weiterhin und wir versuchten, damit umzugehen. Gingen zur Kinderpsychiaterin, trugen uns in überfüllte Wartelisten bei Therapeutinnen ein. Ich recherchierte im Internet und stieß auf Begriffe wie Dissoziation und Derealisation – psychologische Phänomene, die in etwa zu Lisas Beschreibung passten. Ich verfolgte und verwarf unzählige Ansätze und versuchte gleichzeitig, meine eigene Angst in Schach zu halten.

Lisa wurde zur Tunnel-Expertin. Wir schrieben ein Tagebuch und entdeckten viele Trigger wie Dämmerung oder starke Lichtwechsel. Auch wenn Lisa zu wenig gegessen oder getrunken hatte, es Stress gab oder sie angeschlagen war, konnte das Anfälle auslösen. Manchmal kamen sie aber auch völlig aus dem Blauen. Am schlimmsten war für Lisa der Kontrollverlust. Und diesen erlebte sie eines Morgens mitten auf dem dunklen Schulhof. Es war diese Attacke, die Lisa endgültig aus dem Alltag riss. „Die Schule war für mich immer ein sicherer Ort. Ich dachte, dass es dort nicht passieren würde“, weinte sie verzweifelt, als ich sie abholte. Es folgten Wochen der Unsicherheit, auch weil sie mehrere kleine „Nachbeben“ erlebte. An vielen Tagen schaffte es Lisa nicht, alleine das Schulgelände zu betreten. In kleinsten Etappen brachte ich meine zitternde Tochter vom Auto bis zum Klassenzimmer. Am liebsten hätte ich sie wieder mit nach Hause genommen. Aber wir durften nicht aufgeben. So viel war uns allen klar.

In dieser Zeit stand ich unter Hochspannung, zuckte zusammen, wenn das Telefon klingelte. War das Schulsekretariat dran, rannte ich in Pantoffeln aus dem Haus, um möglichst schnell bei Lisa zu sein. Unterwegs noch völlig kopflos, versuchte ich, meine Tochter in der Schule ruhig und mit aufmunternden Worten in Empfang zu nehmen. Es fiel mir unheimlich schwer, da ich ihr Sicherheit geben musste, die ich selbst nicht empfand.   

Lisa zog sich in dieser Zeit zurück, bekam Angst vor der Angst. Freundinnen traf sie nur noch sporadisch und immer bei uns zu Hause. Woanders spielen oder übernachten, Kindergeburtstage besuchen, einem Hobby nachgehen, ins Kino oder in den Freizeitpark – das alles wurde unmöglich. Auch Rutschen, Aufzüge oder Fußgängerunterführungen waren No-Gos, weil sie sie an die Tunnel erinnerten. Dafür begann sich Lisa immer häufiger mit Filmen und Spielen auf dem Tablet abzulenken. Es gefiel uns nicht, aber es half ihr.

Ein Stück Normalität

Gutgetan haben uns in dieser Zeit das Verständnis und das tolle Engagement ihrer Grundschullehrerin. Gemeinsam fanden wir Wege, Lisa den Schulalltag zu erleichtern. Sie durfte in den Pausen mit einer Freundin im Klassenzimmer bleiben, jederzeit essen und trinken oder im Unterricht ans Fenster gehen, um Licht zu tanken. Auch die Kinder reagierten toll. Einige Mädchen waren immer in der Nähe. Bekam Lisa Angst, blieb eines bei ihr und ein anderes holte Hilfe.

Nach einem Jahr Wartezeit kam dann endlich die Zusage einer Kindertherapeutin. Die ersten Termine wühlten Lisa so auf, dass sie danach in den Tunnel geriet. Doch bald schon ging es ihr besser. Die Attacken ließen nach, sie wagte sich immer öfter aus ihrem Schneckenhaus heraus. Im Frühling stand die Abschlussfahrt der vierten Klassen an. Lisa wollte gerne mit, und so tüftelten wir mit ihrer Lehrerin einen Notfallplan aus. Ich selbst nahm mir ein Hotelzimmer nahe der Jugendherberge. Gerne würde ich erzählen, dass die Klassenfahrt ohne Probleme verlief. Doch schon am ersten Tag bekam Lisa einen heftigen Anfall und blieb für den Rest des Tages im Bett. Sie wollte aber unbedingt in der Jugendherberge schlafen. Ich war sehr stolz auf sie! In diesen Tagen schaffte Lisa viele Meilensteine. Am Ende war die Reise für sie das schönste Erlebnis ihrer Grundschulzeit und ein großer Schritt Richtung Normalität.

Seither ist viel Zeit vergangen. Lisa ist jetzt elf. Sie geht regelmäßig zur Therapie, hat den Schulwechsel gut gemeistert, neue Freunde und Selbstständigkeit gewonnen. Im Urlaub ist sie mit uns durch München und Pisa geradelt und sogar im Schwimmbad gerutscht. Die wenigen Tunnel, die sie noch ereilen, sind auf optische Überreizung zurückzuführen und gehen schnell vorüber. Natürlich bleibt die Unsicherheit. Aber wir versuchen, ihr mit Leichtigkeit zu begegnen.
 

* Name von der Redaktion geändert


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