Theologie

„Wir verzwecken die Tiere gnadenlos“

Die Theologie habe die Tiere vergessen, dabei können wir viel von ihnen lernen, sagt Rainer Hagencord, Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster. Der Biologe und katholische Priester im Interview.

veröffentlicht am 12.08.2021

Sie sind zuerst Priester geworden und haben dann später noch Biologie studiert. Inwiefern hat das Ihren Blick auf die Theologie verändert?
Die Beschäftigung mit der Biologie – genauer gesagt mit der Verhaltensbiologie und dem Evolutionsparadigma – hat meine Theologie grundlegend verändert, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen zeigte sie mir auf, dass der Mensch eben kein Wesen ist, das vom Himmel gefallen ist. Oft kommt mir die Theologie aber genauso vor, als sei nur der Mensch von Gott geliebt und mit einer unsterblichen Seele ausgestattet. Wenn ich mich aber mit dem Evolutionsparadigma auseinandersetze, sind alle Denkformen, die allein den Menschen in den Mittelpunkt stellen, nicht haltbar.

Zum anderen wurde bei mir sozusagen ein politischer Motor angeworfen. In den Jahren meines Biologiestudiums Anfang der 90er habe ich mich intensiv mit der Thematik beschäftigt, wie es denn die Kirchen mit den Tieren halten. Immer mehr nahm ich im Zuge dessen wahr, dass die Kirchen zwar sehr wohl von der Bewahrung der Schöpfung sprechen, aber fast nie von Puten, Hühnern, Schweinen und Rindern, als ob die nicht mehr zur Schöpfung gehören.

Sie sagen „die Kirchen“ – das gilt also sowohl für die evangelische als auch die katholische Kirche?
Ich sehe da keinen großen Unterschied. Letztlich geht es in beiden Kirchen um das Seelenheil des Menschen – in einem exklusiven Sinn. Und da wird es ja auch noch einmal politisch, wie wir zurzeit bei der katholischen Kirche merken, die sich gerade auf einen Synodalen Weg macht, bei dem es um gestrige Fragen geht, die mit vorgestrigen Antworten abgespeist werden. Die Fragen, die da gestellt werden, sind doch letztlich die, wer darf mit wem am Altar und wer mit wem im Bett sein. Diese Fragen sind von vorneherein schon beantwortet. Und darauf wird sich fokussiert in einer Zeit, in der die Welt brennt. Wir sind mitten in der ökologischen Katastrophe, wir vernichten gerade Lebensräume und Millionen von Tierarten – das kommt in den Kirchen aber überhaupt nicht vor. Das halte ich für den größten Skandal überhaupt. 2015 hat Papst Franziskus genau dazu eine Enzyklika geschrieben. Aber anstatt jetzt aus der Enzyklika eine Agende und einen Masterplan zu entwickeln, kommt es mir so vor, als sei diese Enzyklika in allen bischöflichen Residenzen in den Keller gewandert. Der Machterhalt des Klerus ist vorrangig.

Mit Ihrem Institut versuchen Sie, ein Gegengewicht zu setzen und Theologie und Naturwissenschaft zu verbinden. Das wird immer wieder als einzigartig genannt. Nicht nur für Deutschland, sogar für ganz Europa. Wieso ist die Kombination dieser beiden Disziplinen in der Forschung überhaupt so selten?
Ich frage mich das ehrlich gesagt auch. Die Bibel ist voller Tiergeschichten. Wenn man das Alte Testament aufschlägt, gibt es fast keine Seite, auf der die Tiere nicht vorkommen – und die Tiere sind da nicht einfach nur Statisten. Doch spätestens in der Aufklärung hat man die Tiere vergessen und ausschließlich von der Erlösung des Menschen gesprochen. Paulus spricht im Römerbrief immer noch von der Erlösung der gesamten Schöpfung, doch die Theologiegeschichte hat dann eine Reduktion vorgenommen. Soweit, dass am Ende nur noch von der Erlösung der Seele des Menschen die Rede war. Eine solche Theologie ist allerdings mit der biblischen Theologie nicht mehr zu vereinbaren.

Dann knüpfen wir da gleich an: Welche Bedeutung haben denn die Tiere in der Bibel?
Im Siebetagewerk, damit fängt die Bibel an, sind die Tiere diejenigen der Schöpfung, die zuerst gesegnet wurden. Der Mensch ist in dieser Erzählung nicht die Krone der Schöpfung, sondern der Sabbat. Die zweite Schöpfungserzählung spricht davon, dass Adam im Garten Eden zunächst einmal die Tiere trifft und sie benennen soll, bevor seine Eva ins Spiel kommt. Die Geschichte geht so weiter, dass der Mensch den Garten Eden verlässt, die Tiere aber bleiben. Thomas von Aquin spricht von der Gottunmittelbarkeit der Tiere, die die Menschen verloren haben. Also Tiere werden nie schuldig. Der Mensch hingegen muss mit Schuld leben. Dann kommt die Erzählung von der Arche Noah. Noah soll von jeder Art ein Paar mitnehmen – ein Hinweis auf das Wissen einer agrarischen Kultur. Das haben wir auch verloren. Und wie endet die Arche Noah-Erzählung? Mit dem Bild des Regenbogens. Dazu heißt es dann, dass Gott einen Bund mit den Menschen und allen Tieren schließt. Ein ganz starkes Bild: Die Tiere sind demnach auch Bündnispartner Gottes. Und das heißt, sie sind nicht für uns da, sie haben einen Eigenwert, sie haben eine eigene Gottesbeziehung. (Kluge Schlange, fieser Hund – Tiere in der Bibel)

Das sind nur einige biblische Stellen, die sich noch um weitere ergänzen ließen. Wenn man sich beispielsweise die Evangelien anschaut und alle Naturbezüge einmal weglässt, dann bleibt vom Evangelium nicht mehr viel übrig. Auch hier wird deutlich, dass die Natur und die Tiere auch für Jesus ein ganz wichtiger Ort sind, um mit Gott in Kontakt zu kommen. Nur der Mainstream der Theologie hat diese Dimension mehr und mehr vergessen.

Greifen wir noch einmal den Eigenwert der Tiere auf, den auch Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika betont. Was ist darunter genau zu verstehen?
Wenn wir davon sprechen, dass die Tiere einen Eigenwert haben, stellt das unser herkömmliches Denken, unsere ganze Praxis letztlich komplett infrage, denn wir verzwecken die Tiere gnadenlos. Das System der industriellen Tierhaltung ist nun einmal ein System, in dem die Tiere zu Rohlingen der Fleisch-, Eier- und Milchindustrie degradiert und reduziert werden. Eigenwert heißt jedoch, dass die Tiere eben nicht nur für uns da sind – und das macht auch Papst Franziskus deutlich. Wenn wir von Eigenwert sprechen, müssen wir uns von der Attitüde der Herrschaft verabschieden und Tiere und Pflanzen als Mitbewohnerinnen und Mitbewohner dieser Erde sowie unsere Geschwister sehen.

Was können wir von den Tieren, von unseren Geschwistern lernen?
Für mich sind das drei Haltungen. Erstens: gegenwärtig sein, im Moment und im Augenblick. Nietzsche sagt, die Tiere seien angebunden am Pflock des Augenblicks. Deswegen erinnern sie auch an das verlorene Paradies. Ich selbst bin oft nicht im Augenblick und muss Meditation üben, um mir das anzueignen. Ich lebe mit Eseln zusammen und da merke ich, dass sie tatsächlich immer präsent sind. Zweitens: in der Wahrnehmung sein und nicht im Denken und Grübeln. Auch das lerne ich bei den Tieren, das Denken immer wieder ruhen zu lassen. Drittens: beheimatet sein. Die großen Fragen, wofür ich gut bin, wie ich mein Leben gestalten muss, kennen Tiere nicht. Als Mensch muss ich sie mir ab und an stellen, aber ich kann sie auch immer wieder ruhen lassen und mich dem Leben, dem Hier und Jetzt anvertrauen.

Von den Tieren lernen und sie in ihrem Eigenwert achten – da hat die Theologie nach Ihrer Bestandsaufnahme noch Nachholbedarf. Was wünschen Sie sich von der Kirche? Inwiefern muss oder sollte sie sich noch vehementer für das Wohl der Tiere als unsere Mitgeschöpfe einsetzen?
Im Punkt der Bildung hätte die Kirche noch eine enorme Gestaltungsmöglichkeit – in der Erstkommunion, Firmung, im Religionsunterricht bis in die Universitäten hinein. Ich habe zum Beispiel in meinem ganzen Theologiestudium an keiner Stelle von den Tieren gehört. Und der zweite Punkt ist die Macht der Kirche über Grundbesitz, über landwirtschaftliche Flächen und über die Kantinen. In Münster beispielsweise gibt es kaum ein Krankenhaus, ein Altenheim oder eine Kita, die nicht in kirchlicher Trägerschaft sind. Hier wird es doch höchste Zeit, dass entweder vegetarische Kost angeboten oder mit Landwirtinnen und Landwirten zusammengearbeitet wird, die nach Demeter- oder Bioland-Kriterien ihr Fleisch herstellen. Weg mit diesem Billigfleisch! Und warum heißt es nicht endlich, keine Tierfabriken mehr auf Kirchenland?

Sind Sie positiv gestimmt, dass da mehr in diese Richtung passiert?
Nein. Es verändert sich ja nichts. Für mich ist die Enzyklika des Papstes 2015 eine Zäsur. Und was ist in diesen sechs Jahren passiert? Mut machen mir hingegen vor allem die Jugendlichen und Studierenden. Ich biete sehr viele Veranstaltungen und Bildungsprogramme an, zu denen auch Lehrerinnen und Lehrer sowie Katechetinnen und Katecheten kommen. Das Interesse ist vor allem bei denjenigen da, die mit Kindern arbeiten und leben – und bei den Jugendlichen der Fridays for Future-Bewegung, die der Politik Dampf machen. Nur von den Machthabern der Kirche erwarte ich nichts mehr.

Rainer Hagencord

Rainer Hagencord, katholischer Priester und Biologe, leitet seit 2009 das Institut für Theologische Zoologie, das an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster angesiedelt ist und unter der Schirmherrschaft der Schimpansenforscherin Jane Goodall steht.


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