Bildung und Beruf

Mit 50 Jahren beruflich auf dem Abstellgleis

Sie war ein „Arbeiterkind“, machte Abitur und studierte. Bildungsaufstieg nennt man so etwas. Doch nach Jahren im Beruf drängt ihr Chef sie aus dem Unternehmen. Unsere Autorin ist schockiert darüber, was ihre Freundin gerade erlebt.

veröffentlicht am 06.04.2021

Sie schafft den „Bildungsaufstieg“, wie man es heute nennt, und büffelt sich durch das Studium. Ich stehe bewundernd daneben, denn auch ich bin ein „Arbeiterkind“. Auch für meine Eltern endete die Volksschule mit 14 Jahren, andere Optionen gab es schlicht nicht. Abitur zu machen und eine Hochschule zu besuchen war für sie unerreichbar.

Susanne startet schließlich in einem kleinen IT-Unternehmen als Assistentin der Geschäftsleitung. „Erst mal“, sagt sie motiviert und ahnt nicht, dass es für die nächsten 20 Jahre ihr einziger Job sein würde. Die Arbeit gefällt ihr, nebenbei jongliert sie Hochzeit, Hauskauf und zwei Kinder.

Angeblich reichen die Qualifikationen nicht

Alles läuft rund, bis vor einigen Monaten der Junior-Chef die Zügel übernimmt und einen Unternehmensberater hinzuzieht. Dieser nimmt Susannes Werdegang unter die Lupe schlägt überraschend vor, sie solle doch mal eine Ausbildung machen. Ihre Qualifikationen reichten nicht aus für das, was die Zukunft in dem brandneuen Firmengebäude samt Tischtennisplatte und Kicker verspricht.

Als sie mir von diesem Gespräch erzählt, bin ich geschockt. Die harte Zeit des Lernens, ihre Loyalität, dem Unternehmen auch in schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen, die vielen Erfahrungen im Umgang mit Kunden und Partnern – alles das soll keinen Wert mehr haben?

Was sind Anstrengung und Erfahrungen wert?

Auch sie ist zutiefst getroffen. Für eine neue Ausbildung fehlt ihr mit fast 50 Jahren die Kraft und der Glaube an eine Perspektive in dem Unternehmen. Also bewirbt sie sich auf alle Stellenausschreibungen, die irgendwie in ihren Lebensplan passen. Mit viel Glück gerät sie an eine Stelle als Schulsekretärin. Sie sei eigentlich überqualifiziert und unterbezahlt, sagt man ihr ganz unverblümt. Das ist Susanne egal. Nach vielen Absagen ist sie dankbar für das Angebot, erleichtert nimmt sie an.

Susannes Schicksal beschäftigt mich. Ich stelle mir die Frage, mit welchen Perspektiven wir junge Leute heute in die Ausbildung schicken. Eine Ausbildung und ein Studium gelten noch immer als solides Fundament für eine berufliche Entwicklung. Doch was ist die Anstrengung wert, wenn man nach einigen Jahrzehnten derart ausgebootet werden kann? Wie kann man dem vorbeugen? Kann man dem überhaupt vorbeugen? Von der Natur lernen wir, dass Organismen unterlegen sind, die sich den ändernden Umwelteinflüssen nicht anpassen können. Vielleicht liegt darin ein Ansatz, der auch in unserer sich immer schneller drehenden Arbeitswelt eine gravierende Rolle spielen wird. Flexibel bleiben. Nicht verharren. Immer nach vorne blicken und aufgeschlossen dem Neuen gegenübertreten. Das wird sicher nicht jeder und jedem zu jeder Zeit gelingen. Auch Susanne hatte dazu wenig Chancen. Weiterbildungen gab es nicht, dafür war nie Geld da. Hätte sie rückblickend etwas anders machen können? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass auch Erfahrungen etwas wert sind. Bei all dem Verständnis für Neues – wir tun gut daran, sie als Bereicherung wahrzunehmen.


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