Generationen
Neue Freundschaft mit einer 99-Jährigen
Richtig kennengelernt hat unser Autor seine Großtante „Goli“ erst in der Corona-Zeit. Die alte Dame war verzweifelt, der Familienvater griff zum Telefon. Aus diesem ersten Kontakt seit vielen Jahren entwickelte sich eine lebendige Freundschaft.
veröffentlicht am 30.06.2021
99 Jahre – auf das biblische Alter meiner Großtante Viktoria ist meine ganze große Verwandtschaft stolz. Die Müllerstochter und heute letzte Überlebende von acht Geschwistern führte einst mit Großonkel Franz eine Metzgerei und war von den Leuten ihrer Kleinstadt allseits geschätzt. Auch von meiner Mutter und deren fünf Geschwistern, die allesamt Patenkinder des selbst kinderlos gebliebenen Ehepaars waren und eine gute Beziehung zu ihr pflegten. Den Vornamen der Großtante erfuhr ich erst vor Kurzem, da sie für alle immer nur „die Goli“ war.
Die Fleischerei schloss vor 40 Jahren, und ihr Gatte wie auch die meisten Mitarbeiter und Stammkunden sind längst verstorben. Goli war erblindet und sehr geschwächt in Rücken und Knien, wohnte aber dennoch weiterhin in ihren eigenen vier Wänden, bis sie mit 96 widerwillig ins Seniorenheim übersiedelte. Ich selbst hatte die zierliche Dame mit stets perfekter Frisur seit meiner Hochzeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Meine Mutter hielt mich aber am Laufenden und erzählte auch von ihrem Hadern, warum sie noch nicht sterben darf – so als komme das Taxi nicht, das sie nach Hause bringen soll. Das Erwarten hatte sie müde gemacht.
Weckruf Corona
Mit Beginn der Corona-Zeit verwandelte sich das Pflegeheim in einen Hochsicherheitstrakt. Jeder Bewohner durfte pro Woche nur einen Gast hinter einer Glaswand und später hinter einem zwei-Meter-Tisch empfangen. Da musste man sich mit Maske zurufen, was Gespräche eigentlich unmöglich machte. Seelsorgern blieb der Zutritt ganz verwehrt, alle Gottesdienste fielen aus. „Dies ist die schlimmste Zeit meines ganzen Lebens“: Wie erschütternd, wenn jemand mit dem Geburtsjahr 1921 so redet. Golis Patenkinder reagierten und organisierten sich so, dass sie von nun an täglich einen Anruf bekam. Das funktionierte auch, denn Gott sei Dank waren ihr Gehör und Gedächtnis erhalten geblieben.
Als dann im Jänner das Virus persönlich das Heim besuchte, verschärfte sich die Situation mit Einzelhaft für alle. Um nicht angesteckt zu werden, durfte Goli nicht mehr aus dem Zimmer, und nur für Sekunden im langen Tagesverlauf öffnete sich die Türe, wenn das Essen im Wägelchen oder die Pflegerin im Astronautenkostüm kam. Alles nutzte nichts. Die Nachricht ein paar Tage später, auch meine Großtante sei positiv, war für mich wie das allerletzte Schrillen eines auf Schlummermodus gestellten Weckers. Erst recht, da mich gerade auch die Sterbehilfe-Debatte sehr beschäftigte.
Das erste Telefonat
Schlechten Gewissens griff ich also noch am selben Abend zum Handy und wählte Golis Nummer. Schon nach dem ersten Läutsignal wurde abgehoben, als hätte sie nur darauf gewartet. Ich stammelte meinen Namen, stellte mich 16 Jahre nach der letzten flüchtigen Begegnung wieder vor und war auf alles gefasst. Zumindest wollte ich es versucht haben. Und ich kann gar nicht sagen, was größer war - ihre Überraschung auf den Anruf oder meine auf ihre Reaktion. Jedenfalls auf beiden Seiten nur helle Freude darüber, ganz unverhofft einen Menschen geschenkt zu bekommen, an dessen Erleben man Anteil haben wollte und durfte.
Das Virus zog wieder von dannen, ohne dass meine Großtante Symptome entwickelt hätte, wenngleich die im Bett verbrachten Isolationswochen bei allen Überlebenden im Heim massiven körperlichen und geistigen Abbau bewirkt hatten. Unsere spezielle Art von Fernbeziehung blieb jedoch bestehen und vertiefte sich. Ich staunte bei den abendlichen Telefonaten nur, wie gut Goli über meine Familie, der sie noch nie begegnet war, schon Bescheid wusste und uns in ihren Gedanken mittrug, ohne dass wir dies geahnt hatten. Doch auch meine Frau und die Kinder beschäftigte ihr Los sehr – und setzte so einiges in Bewegung.
Beistands-Pakt
Mit den Kindern überlegten wir, wie wir ihrer Urgroßtante nahe sein konnten, die ja weder Briefe noch Zeichnungen und Fotos noch Kurznachrichten sehen konnte. So nahmen wir eine Musik-CD auf, mit Rosenkranz, Liedern, Musikstücken und dazwischen Bibelversen und Gebeten, die wir für ihre Situation passend hielten. Die Pflegedirektion des Heims versprach, man werde ihr die CD auflegen. „Ich bete jetzt jeden Tag mit euch“, eröffnete uns Goli, als wir zu Ostern die zwei Autostunden entfernt Lebende auf der Gartenbank kennenlernten. Damals schlossen wir eine win-win-Vereinbarung: Wir wollten ab nun regelmäßig für sie beten und sie für uns – und zwar wie auf Erden so auch im Himmel.
Mittlerweile ist für uns eine entfernte zur nahen Verwandten geworden. Am Telefon wirkt Goli nie greise oder verbittert, sondern jung, lebendig und frisch. Sie lässt uns ahnen, wie groß etwas Kleines wie ein zehn-Minuten-Anruf sein kann, der die Einsamkeit durchbricht und Wahrnehmung, Wertschätzung und Begleitung vermittelt. Sie stärkt den Zusammenhalt der Großfamilie, die sich gerade zur Organisation ihres 100ers im November abspricht. Sie zeigt uns, was Dankbarkeit ist, lässt uns mit den Erzählungen aus Kindheit, Schulzeit und Fleischerei Zeitreisen machen, beschenkt uns mit ihrer Weisheit und Gelassenheit und hilft dabei, dass wir uns als Familie konkret mit Tod, Sterben, Würde und dem Wert des Lebens auseinandersetzen. Und wir alle spüren: Sehr alte und junge Menschen haben einander viel zu geben.