Motivation

Die Leselust bei Kindern wecken

Zwischen zwei Buchdeckeln kann sich eine neue Welt auftun. Aber nicht alle Menschen lieben es, sich zwischen den Zeilen zu verlieren. Wie können wir unsere Kinder fürs Bücherlesen begeistern? Und sollten wir das überhaupt?

veröffentlicht am 05.11.2024

Linus ist ein Büchermuffel. „Andere Sachen machen mir einfach mehr Spaß“, sagt der Elfjährige nach den Gründen gefragt. „Zum Anhören mag ich Geschichten gerne, aber es nervt mich, selber zu lesen.“ Das liege auch an der Schule. „Da wird immer vermittelt: Du musst lesen, sonst lernst du nichts und bekommst keinen richtigen Job.“

Auch mit Lektüren konnten ihn seine Lehrkräfte in den vergangenen Jahren wenig begeistern. „Wenn unsere Lehrerin Harry Potter mit uns gelesen hätte, hätte das alle interessiert“, ist er sicher. Ausgewählt hat sie aber eine Detektivgeschichte, die im Bayerischen Landtag spielt. „Das fand ich nicht so gut“, sagt Linus. „Die Geschichte war langweilig. Da waren viel zu viele Infos über den Landtag und zu wenig Detektivgeschichte.“

Sabine Uehlein, Geschäftsführerin Programme der Stiftung Lesen in Mainz, kennt Erfahrungen wie diese. „Klar, das ist ein Problem“, bestätigt sie. „Das hören wir immer wieder, dass Kinder sagen, Schullektüre ist nichts, das ich spannend finde.“ Sie nimmt die Lehr­kräfte aber auch in Schutz. „Es ist natürlich auch eine Herausforderung, eine Geschichte zu finden, die 25 Kinder gleichzeitig abholt.“

Unter anderem mit dem deutschen Bundesweiten Vorlesetag setzen sich Uehlein und die Stiftung dafür ein, die Lesekompetenz junger Menschen zu fördern. Das Vorlesen fördere Sprachkompetenz, Wortschatz und weitere Fähigkeiten, die das Lesenlernen erleichtern. Es habe aber auch „sehr viele emotionale und soziale Auswirkungen“. „Kinder zum Beispiel, denen regelmäßig vorgelesen wird, sind wesentlich empathischer, weil sie sich in die Perspektive anderer Personen hineinfühlen können, weil sie die aus Geschichten kennen.“ Diese Kinder seien häufig auch sozial engagierter, fantasievoller und aktiver.

Formate und Kanäle nicht gegeneinander ausspielen

Deshalb empfiehlt Uehlein Eltern, schon früh mit dem Vorlesen anzufangen: „Mit Beginn der Schule ist es viel zu spät.“ Wenn die Kinder in den Familien keinen Impuls bekämen, „was Sprache, was Vorlesen, was Geschichten betrifft, dann haben sie einen wirklich deutlichen Nachteil am Beginn der Grundschule. Und das ist kaum mehr aufzuholen“, warnt sie.

Geschichten erleben können Kinder schon lange auch ohne Bücher. Heute ist die Konkurrenz für das Buch so groß wie nie: Hörbücher, Hörspiele, Filme, Serien – in Zeiten von Streaming und Abos sind Geschichten schneller verfügbar als je zuvor. Für Uehlein ist das kein Problem. „Ich finde das immer schwierig, wenn wir versuchen, Formate und Kanäle gegeneinander auszuspielen und zu sagen, nur das eine ist das Gute“, sagt sie. Auch Kathrin Wexberg von der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE) in Wien sieht eher die Vorteile. Für Kinder erhältliche Hörboxen, die eine Geschichte abspielen, sobald man eine Figur auf sie stellt oder eine Karte hineinsteckt, sieht sie als Chance. „Das ist eine tolle Möglichkeit, an Geschichten heranzuführen“, findet sie. „Und ich glaube, dass gerade auch bei Kindern, die das Lesen selber anstrengend finden, Hörbücher eine tolle Variante sein können.“

Trotzdem ermutigt Wexberg Eltern, Kindern Bücher auch dann weiter anzubieten, wenn sie sich mit dem Lesen schwertun oder zunächst kein Interesse an Literatur zeigen. „Ich würde auf jeden Fall dranbleiben“, sagt sie. „Ich kenne tatsächlich auch Menschen, die zum Beispiel erst als junge Erwachsene angefangen haben, zu lesen.“ Wexberg regt an, Gelegenheiten zu nutzen, die sich ergeben, etwa wenn ein beliebtes Jugendbuch gerade verfilmt wurde. Man könne Bücher „immer wieder mal anbieten. Ich denke mir, ein bisschen so, wie man es bei jüngeren Kindern auch mit dem Essen macht.“ Wichtig sei dabei aber, den Druck rauszunehmen. „Ich probiere es halt immer wieder mal in unterschiedlichen kreativen Varianten und irgendwann klappt es vielleicht oder auch nicht“, schlägt sie vor.

Auf die eigene Vorbildfunktion schauen

Wichtig sei es auch, die Lesefähigkeiten der Kinder nicht zu überschätzen, wie Sabine Uehlein hervorhebt. „Wir Erwachsenen, so ist manchmal mein Eindruck, haben auch hin und wieder vergessen, wie mühsam Lesenlernen ist. Das ist harte Arbeit“, so die Expertin. „Und da tun sich Kinder unterschiedlich leicht damit, brauchen unterschiedlich lang dafür, haben ein unterschiedliches Lerntempo.“ Gleichzeitig seien Kinder, die bereits komplexere Geschichten gewohnt sind, beim Lesenlernen „im Grunde total frustriert“, weil sie dabei „nur so Popelsätze entziffern“. Wie Sabine Uehlein rät deshalb auch Kathrin Wexberg: „Ein guter Trick ist, noch länger vorzulesen, als man das vielleicht selber machen würde.“ Auch gemeinsames Lesen ist für viele Familien eine schöne und hilfreiche Erfahrung. So sind manche Bücher darauf ausgerichtet, dass die Kinder nur kurze, einfache Passagen selbst vorlesen und dann die Eltern mit einem langen, komplexeren Abschnitt fortfahren.

Doch was macht das Lesen von Büchern so besonders? Da sei zum Beispiel „die Haptik des Buches“, erklärt Wexberg. „Ich greife es an: Es kann groß sein, es kann klein sein; es kann raues Papier haben, es kann glattes Papier haben; die Farbigkeit. Das sind einfach alles Dimensionen, die hat weiterhin nur das Buch.“ Es gebe auch eine „Dramaturgie des Umblätterns“. „Wenn ich umblättere, eröffnet sich oft eine Pointe oder eine neue Erzählwelt“, so Wexberg. Sabine Uehlein verweist auch auf die eigene Vorstellungskraft, die bei Büchern stärker als bei anderen Medien gefordert sei. Mit einem Buch erhalte man „einen Text, den Sie persönlich für sich ausmalen, ausschmücken, in Ihrer eigenen Vorstellungswelt“.

Wer seinen Kindern diese Welt näherbringen will, sollte auch auf die eigene Vorbildfunktion schauen, sagt Kathrin Wexberg. „Also dass ich einfach selber meinem Kind authentisch vorlebe: Lesen ist super und ich mach das gerne.“ Das müsse aber „natürlich auch authentisch sein“. Wer selbst keinen Zugang zu Literatur habe, müsse sich das auch nicht krampfhaft aufbürden.

Lesungen und Literaturfestivals als Chance

Als weitere große Chance sieht Wexberg „Leseorte wie Büchereien“. „Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass das auch für Kinder, die gar nicht so buch­affin sind, spannend ist, dieses: Ich kann schmökern und ich kann mir was aussuchen.“ Auch Lesungen, ­Literaturfestivals und ähnliche Angebote seien eine tolle Möglichkeit. Für viele Kinder habe es einen Wow-Effekt, wenn sie live sehen, „da ist jetzt der Mensch, der sich dieses Buch ausgedacht hat oder der das gezeichnet hat“. Es sei „auch was ganz Tolles, wenn ich dann ein signiertes Buch hab, wo mir die Person vielleicht was reingeschrieben oder reingezeichnet hat“.

Letztlich kann und sollte man seine Kinder aber nicht zum Bücherlesen zwingen und bei allen Versuchen niemals Druck aufbauen. Beim Lesenlernen ist es vor allem wichtig, dass die Kinder lesen, weniger, was sie lesen, wie Sabine Uehlein von der Stiftung Lesen betont: „Sie können als Kind genauso zum kompetenten Leser oder zur kompetenten Leserin werden, wenn Sie Fußballzeitschriften rauf und runter lesen. Da geht es einfach um Leseübung, Leseerfahrung. Je mehr Sie lesen, umso leseflüssiger werden Sie. Und Leseflüssigkeit ist notwendig, um überhaupt sinnentnehmend lesen zu können.“

Dass es manchmal auch nichts hilft, wenn die Eltern noch so literaturbegeistert sind, musste Kathrin Wexberg auch in ihrer Familie feststellen. „Ich habe zwei Söhne. Und bei mir ist es auch so, dass ich beim Jüngeren völlig fasziniert war, dass ein Kind lesen kann, ohne sich für Bücher zu interessieren“, sagt sie selbstironisch. Ihr Sohn sei ein reiner Informationsleser – so wie Linus, der Geschichten lieber hört und sein Lesekönnen in der Freizeit lieber in Apps mit Fußballnachrichten oder auf Quizseiten im Internet unter Beweis stellt.

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