Training fürs Leben

Was Kinder und Jugendliche durchs Boxen lernen können

Kann ein Boxring ein Zuhause sein? Für Kinder und Jugendliche in Essen ist er auf jeden Fall ein Ort, an dem sie über sich hinauswachsen und zeigen können, was in ihnen steckt.

veröffentlicht am 16.08.2024

In Essen-Borbeck gibt es gute Wohngegenden, Parks, ein romantisches Schloss. Aber auch Straßen, in denen ein trister Block neben dem anderen steht. Sie erinnern an Berlin-Marzahn oder den 10. Bezirk in Wien. Viele Menschen, ­wenig Raum. Hohe Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven. Hier hängen Jugendgangs ab, schwänzen die Schule, dealen, ringen um die Vorherrschaft im Kiez. Auch hinter den Wohnungstüren herrscht oft ein rauer Umgang.

Fünf Minuten entfernt liegt der Don Bosco Club Borbeck. Ein Haus der offenen Tür für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Bis zu 150 Menschen kommen täglich hierher. Zum Essen, zur Hausaufgabenbetreuung, zum Chillen und Spielen. Sie gärtnern, machen Musik, kicken, tanzen. Und sie boxen! Mittlerweile so erfolgreich, dass das „­BoxTeam“ des Don Bosco Clubs weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist.

Thomas Jekel arbeitet hier als Pädagoge und Trainer. Er erinnert sich gut an die Anfänge vor zwölf Jahren. „Es gab viele, die sich an keine Regeln hielten und immer wieder Auseinandersetzungen hatten. Die Atmosphäre war nicht gut.“ Zu dieser Zeit kam ein Jugendlicher in den Club, der gerade eine dreijährige Haftstrafe abgesessen hatte. Im Gefängnis hatte er mit dem Boxen angefangen und erzählte davon ehrlich begeistert.

„So entstand die Idee, hier bei uns Boxen anzubieten“, sagt Jekel, der selbst aus dem Boxsport kommt. Gemeinsam mit einem Sponsor des Clubs wurde ein wöchentliches Training ins Leben gerufen. „Wir haben mit drei Paar Boxhandschuhen, einem Sandsack und mir als Trainer angefangen“, erinnert sich Jekel schmunzelnd. „Und wir hätten nie gedacht, dass wir so viele mit unserem Angebot ansprechen würden“, ergänzt Susanne Bier, die pädagogische Leitung des Hauses.

Im Ring spielt die Herkunft keine Rolle

Bereits drei Monate später boxen 20 junge Leute regelmäßig im Don Bosco Club, nach einem Jahr sind es 40. Mit dem Training bessert sich das soziale Klima im Haus. Denn von Anfang an stellen Susanne Bier und Thomas Jekel klar: „Wer hier boxen will, muss sich an die Regeln halten, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen, respektvoll sein. Wird einer der Punkte nicht erfüllt, gibt es kein Training.“

Nach und nach weiten sich die Trainingszeiten aus. Inzwischen kommen auch externe Boxtrainer auf Honorarbasis in den Club. Schließlich gründen Susanne Bier und Thomas Jekel eine offizielle Boxabteilung. Das „BoxTeam Essen“ ist dem Sportverein „DJK Eintracht Borbeck“ zugeordnet, der zum Don Bosco Club gehört. Heute trainieren hier 120 Jungen und Mädchen zwischen sechs und 30 Jahren aus ganz unterschiedlichen Milieus. Denn im Ring spielt die Herkunft keine Rolle.

„Auf unserer Trainingsfläche finden sich alle sozialen Gruppen, die unsere Gesellschaft so parat hat“, sagt Jekel. Hier ist es völlig egal, welchem Beruf die Eltern nachgehen und wie hoch das Einkommen einer Familie ist. Es interessiert niemanden, ob man einen Migrationshintergrund hat, welche Schule man besucht und ob man dort zu den Coolen gehört oder eher nicht. Viel wichtiger sind Dinge wie Teamgeist, Fairness und Spaß.

Genauso wie der Don Bosco Club offen für alle ist, so ist auch im BoxTeam jeder willkommen. Viele schnuppern, hören wieder auf und wenden sich anderen spannenden Angeboten im Don Bosco Club zu. Marina ­Siewert ist geblieben. Die 17-Jährige kam zum ersten Mal als Kind in den Boxraum. „Ich habe meinen großen Bruder begleitet, der hier trainierte“, erzählt sie. Statt sie auf der Zuschauerbank sitzen zu lassen, luden die Trainer das Mädchen ein, mitzumachen.

Boxen macht souveräner und gelassener

Das ist jetzt acht Jahre her und das Boxen hat Marina nie mehr losgelassen. Sogar Leistungsschwimmen hat die sportliche Gymnasiastin dafür aufgegeben. Heute ist ­Marina eine der drei besten Boxerinnen Deutschlands in ihrer Altersklasse. Dreimal pro Woche trainiert sie im Don Bosco Club. „Nach dem Aufwärmen haben wir montags Techniktraining mit Partnern. Mittwochs trainieren wir am Sandsack.“ Freitags steigt Marina unter Aufsicht ihrer Trainer in den Ring.

Verletzt hat sich die junge Frau mit den langen braunen Haaren noch nie. Sie trägt Kopf- und Mundschutz, Bandagen und Boxhandschuhe schützen die Hände. Mittlerweile assistiert sie auch beim Basistraining und macht Eindruck mit ihrem Können. „Ihre Sparringpartner sind oft ganz baff und sagen, sie hätten nie gedacht, dass Marina so gut ist“, schmunzelt ihr Trainer. Eine wichtige Lektion gerade für jene, die wenig Respekt vor Frauen haben.

Marina ist durch das Boxen souveräner geworden. „Ich fühle mich selbstsicherer, wenn ich unterwegs bin“, sagt sie. Susanne Bier ist von ihrer Entwicklung begeistert. „Am Anfang war sie schüchtern und zurückhaltend. Das ändert sich immer mehr“, freut sie sich. Vor Kämpfen zeigt die junge Boxerin eine unerschütterliche Gelassenheit. „Sie hat so eine Ruhe, da spürt man keine Aufregung. Marina weiß noch nicht, wie gut sie ist. Wenn sie das erst mal kapiert hat, wird es schwer, sie zu schlagen.“

Auch Marinas Eltern haben inzwischen gemerkt, wie gut das Boxen ihrer Tochter tut. „Am Anfang standen sie nicht so dahinter“, erinnert sich Thomas Jekel. „Aber mittlerweile sind sie sehr stolz auf sie.“ Marinas großer Bruder hat seine Boxhandschuhe schon lange an den Nagel gehängt, unterstützt seine erfolgreiche Schwester aber intensiv bei Wettkämpfen. „Wenn sie weitermacht, kann sie irgendwann bei den Europameisterschaften antreten“, ist Susanne Bier sicher.

Beim Training geht's vor allem um Disziplin und Respekt

Immer wieder schaffen Boxerinnen und Boxer aus Borbeck den Sprung in internationale Kader. „Ein Jugendlicher aus Afghanistan kam durch die Flüchtlingshilfe zu uns. Er ist jetzt deutscher Meister“, erzählt Jekel. Eine andere Boxerin ist Jugend-Europameisterin geworden, trainiert nun in der Nationalmannschaft. „Solche Talente werden früher oder später von Bundesleistungszentren abgeworben. Aber angefangen haben sie hier bei uns!“, sagt Jekel stolz.

Angesichts solcher Erfolgsgeschichten mag es verwundern, wenn beide Pädagogen betonen, dass es im BoxTeam nicht vorrangig um Leistung geht. „Viel wichtiger ist es, Jugendlichen mit dem Boxtraining zu helfen.“ Zum Beispiel, friedlicher miteinander umzugehen, auch wenn das erst mal paradox klingt. Tatsächlich aber zeigen Studien, dass Boxen die Gewaltbereitschaft nicht etwa fördert, sondern senkt. Thomas Jekel kann das bestätigen. „Da ist eine besondere Magie im Boxraum. Es ist anders als auf der Straße.“

Immer wieder gibt es beim Training besondere Momente. Etwa wenn Jugendliche mit großem Aggressionspotenzial im Ring auf Schwächere treffen. „Sie könnten sie mit einem Schlag umhauen. Doch sie halten sich zurück und machen es nicht.“ Nur zweimal kommt es in all den Jahren vor, dass Boxschüler ihr Können draußen gegen andere einsetzen. Einmal bei einer Straßenschlägerei, einmal auf dem Fußballplatz. Beide müssen den Club sofort verlassen.

Disziplin, Respekt und Kampfgeist sind gute Eigenschaften des Sports, die sich in andere Lebensbereiche übersetzen lassen. Deshalb bietet das BoxTeam auch präventives Training an Schulen an. Eine Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie läuft seit Jahren ebenso erfolgreich. „Boxen kann therapeutische Wirkung entfalten“, ist Jekels Erfahrung. „Wir hatten hier mal ein sehr introvertiertes Mädchen. Sie hat sich immer unter ihrer Kapuze versteckt. Als sie in den Ring stieg, ist sie plötzlich total aus sich rausgekommen, war wie erlöst. Ein riesiger Erfolg.“


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