München

Im Salesianum finden Jugendliche eine Heimat auf Zeit

In vier sozialpädagogischen Wohngruppen bietet die Einrichtung jungen Menschen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch eine intensive persönliche Begleitung. Ein Besuch beim 16-jährigen Adrian und seiner Bezugsbetreuerin Sibel Karakoç.

veröffentlicht am 12.11.2024

Sibel Karakoç sieht Adrian immer wieder intensiv in die Augen, während sie spricht. Es sind Blicke, die von einem tiefen Vertrauen zeugen, das die beiden zueinander aufgebaut haben. „Am Anfang war Adrian eine sehr schüchterne Person“, erinnert sich Karakoç, deren schulterlanges braunes Haar auf das weiße T-Shirt fällt, das sie unter einem weiten, blau­grauen Kleid trägt. Sie ist Adrians Bezugsbetreuerin in der Sozialpädagogischen Wohngruppe Life des Salesianums in München. Dort lebt der heute 16-Jährige. „Er war 14, als er bei uns eingezogen ist“, fügt sie hinzu. „Und er war der Jüngste in der Wohngruppe.“

Die Arme locker verschränkt, sitzt Adrian an diesem Vormittag auf einem großen, grauen Sofa im Wohnzimmer der Gruppe. Er trägt eine schwarze Kappe mit dem Logo der New York Yankees über den kurzen Haaren und ein kurzärmliges, blau-weiß gestreiftes Hemd. Noch ist es ruhig in der Wohngruppe. Die meisten Bewohner sind noch in ihren Zimmern.

In Situationen, in denen er früher aggressiv reagiert hat, bleibt Adrian heute ruhig

„Es war ein neuer Lebensabschnitt, den ich begonnen habe, der anfangs sehr schwer für mich war“, sagt Adrian. Seit er sieben Jahre alt war, lebte er in einer Gruppe für Kinder, die er wegen seines Alters verlassen musste. Der Einrichtungswechsel war eine große Veränderung für ihn. In der Wohngruppe Life ist sein Alltag viel freier als in seiner früheren Gruppe, wo der Tag stark strukturiert war und viele Regeln galten, etwa ein striktes Handy­verbot. Die neue Freiheit bei Life war anfangs auch überfordernd. „Ich dachte, ich schaffe diesen Schritt nie. Aber ich hab’s geschafft“, hält Adrian stolz fest.

Und nicht nur das. Er hat auch seine Einstellung grundlegend geändert. „In der Gruppe davor war ich nicht wirklich ein Vorbild vom Verhalten her. Es gab viele Probleme und auch Diskussionen mit meinen Betreuern“, sagt er selbstkritisch. „Das wollte ich einfach ändern, weil ich das inzwischen vollkommen unnötig finde. Ich möchte keine schlechte Bindung zu irgendwelchen Personen haben.“ In Situationen, in denen er früher aggressiv reagiert hat, bleibt Adrian heute ganz ruhig – schon seit seinem ersten Tag im neuen Zuhause. Sibel Karakoç kann sich heute kaum vorstellen, wie Adrian sich früher verhalten hat. „Diese Aggressivität zeigt er hier gar nicht mehr“, berichtet sie. „Ich würde ihn wirklich komplett anders beschreiben.“ Wenn sie von ihm spricht, fallen Ausdrücke wie „selbstständig“ oder „starker Charakter“. „Er denkt auch mit für die anderen in der Gruppe“, sagt Karakoç anerkennend.

13 junge Menschen leben in der Wohngruppe Life

13 Jugendliche und junge Männer zwischen 15 und 19 Jahren leben aktuell bei Life, zehn von ihnen sind Geflüchtete. „Wir sind manchmal fast wie eine Mutter, manchmal eher wie eine Schwester, manchmal wie Freunde von den Jungs“, beschreibt Karakoç das Verhältnis der Bewohner zu ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen. Vier hauptberufliche Betreuer und drei Nachtbereitschaften kümmern sich im Schichtdienst um die 13 Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Jeder Bewohner hat einen festen Bezugsbetreuer oder eine Bezugsbetreuerin, so wie Adrian Sibel Karakoç, aber auch Kontakt zu allen anderen.

So bietet das Salesianum in seinen insgesamt vier Sozialpädagogischen Wohngruppen ein Zuhause für männliche und weibliche Jugendliche und junge Erwachsene. Dabei legt das gesamte Team Wert auf eine große Herzlichkeit und Zugewandtheit den jungen Menschen gegenüber, wie der Pädagogische Leiter des ­Salesianums, Jochen Lau, hervorhebt. „Wir arbeiten mit sehr gut ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen, Psychologinnen und Psychologen und vielen anderen zusammen, um unserem hohen Anspruch auf eine Heimat auf Zeit gerecht zu werden“, betont er. „Wir tun dafür unser Bestes. Wir versuchen, wirklich für jeden, der uns um Hilfe bittet, eine gut gelingende Lösung zu finden.“ Ganz nach dem Motto der Salesianer Don Boscos: „Damit das Leben junger Menschen gelingt.“

Die Gruppe ist für die Bewohner wie eine Familie

Diese Werte zeigen sich vor allem in den ganz alltäglichen Momenten. Etwa das gemeinsame Lachen beim Kartenspielen. Oder wenn sich Adrian hinter einem Türrahmen versteckt, um Karakoç zu erschrecken, und sie sich später in einem unerwarteten Moment dafür auf gleiche Art revanchiert. „Man muss nicht immer im Hinterkopf haben, dass das hier ein Heim ist“, findet Adrian. „Das kann man auch mal ausblenden und einfach so tun, als ob das eine Familie wäre.“

Auch das Erfüllen von Wünschen zählt zu Karakoçs Aufgaben als Bezugsbetreuerin. Bei anderen Jugendlichen ist das meist die Aufgabe der Eltern. „Mein nächster größter Wunsch wäre jetzt, in einen Parkour-Kurs zu gehen“, sagt Adrian. „Diesen Parkour-Verein zu finden, macht man ja im Regelfall mit der Mutter.“ In seinem Fall hilft seine Bezugsbetreuerin. Aber manchmal sind es auch die kleinen Dinge, ein gemeinsamer Kinobesuch zum Beispiel. Denn Adrian und Karakoç verbindet eine Vorliebe für Horrorfilme.

Adrian will Lehrer werden, seine Bezugsbetreuerin unterstützt ihn dabei

enau wie in einer Familie kann es in der Wohngruppe natürlich trotz aller Bemühungen nicht zugehen. „Hier sind ja viel mehr Leute“, sagt Adrian. Außerdem können die Bezugsbetreuerinnen und -betreuer nicht rund um die Uhr greifbar sein für ihre Schützlinge. Das empfindet Adrian aber nicht als Problem. „Ich kann mit jedem Betreuer reden.“ Wenn es aber Themen gibt, die er nur mit Sibel besprechen möchte, „muss ich warten, bis sie da ist“, sagt er verständnisvoll. Er habe zu fast allen in der Gruppe eine engere Bindung, besonders zu den Betreuern. „Das ist schon ein guter Ersatz“, betont er.

Auch wenn es um seine Zukunft geht, erhält Adrian die Unterstützung, die er braucht. Weil er seit Kurzem seine Mittlere Reife in der Tasche hat, stellt sich die Frage nach seinen Berufswünschen. „Ich will Lehrer werden“, sagt er. Gemeinsam mit Karakoç hat er einen Plan für die nächsten 13 Jahre skizziert: Um sein Ziel zu erreichen, macht er zunächst ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), will anschließend eine Ausbildung zum Erzieher machen, um später mit einem Abschluss auf der Berufsoberschule die allgemeine Hochschulreife zu erhalten. Mit ihr kann er dann Lehramt studieren. Aber zunächst will er im FSJ herausfinden, ob dieser Weg wirklich der richtige für ihn ist.

„Wenn mir das FSJ gar nicht taugt, muss ich komplett umplanen“, sagt Adrian reflektiert. Aber auch dann würden ihm Sibel Karakoç und das Team der Wohngruppe Life zur Seite stehen.

Das Salesianum in München

Im Münchener Salesianum ist das Leben junger Menschen sehr vielfältig und lebendig. Azubis und Blockschüler finden in Wohngruppen fernab von zu Hause eine Heimat auf Zeit. Im Rahmen der Jugendhilfe bauen sich Jugendliche und junge Erwachsene, darunter auch viele junge Geflüchtete, Schritt für Schritt eine neue Zukunftsperspektive auf. Und im Oratorium verbringen Kin der und Jugendliche ihre Freizeit und werden bei ihren Hausaufgaben betreut. Leben heißt im Salesianum nicht nur, jungen Menschen ein Dach über dem Kopf oder Verpflegung anzubieten. Leben heißt viel mehr, für sie da zu sein, sie auf ihrem Weg zu begleiten, sie zu fördern, sie zu einer selbstverantwortlichen Lebensführung zu befähigen und ihnen eine gute Basis für eine gute Zukunft zu ermöglichen. Seit Herbst/Winter 2023/2024 befindet sich das Salesianum in einer gut dreijährigen Umbau- und Sanierungsphase bei laufen dem Betrieb.

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