Mal so, mal so!
Über unseren Umgang mit dem eindeutig uneindeutigen Geschlecht unseres Kindes
Kinder einfach Kinder sein lassen – das hört sich leicht an. Doch in unserer Gesellschaft wird vergeschlechtlicht und zugeordnet. Für Miki Herrlein ein Problem und zugleich Ansporn, es bei den eigenen Kindern anders zu machen und Vielfalt vorzuleben.
veröffentlicht am 02.08.2023
„Schau mal Papa, ein Bauarbeiter*innenklo!“ Unser Kind (6), das aktuell Isa genannt werden will, weiß: Die blauen Baustellen-Klos sind für alle Geschlechter da. Für Menschen mit Hosen oder Röcken, für die, die sich mal-so-mal-so, weder-noch oder sowohl-als-auch fühlen. Unsere drei Kinder müssen sich zu Hause nicht an stereotypen Geschlechterrollen abarbeiten. Sie dürfen spielen, was sie wollen, sein, wer sie wollen, und so genannt werden, wie sie wollen.
Isa verkleidet sich gerne als Polizei oder Eiskönig*in, mag Fußball und Glitzer, Batman und Regenbögen. Sie ist seit etwa eineinhalb Jahren genderfluid – oder wie Isa selbst sagt: fühle mich „mal-so-mal-so“. Sie wechselt ihre Namen und Pronomen in regelmäßigen Abständen: Janus (er), Abendstern (keine Pronomen) oder Isa (sie). Manchmal ist sie aber auch einfach nur ein Einhorn, ein Dino oder Hotzenplotz. Ihr bester Freund kommt gerne mit Kleid und Schminke in den Kindergarten, fühlt sich als Junge. Und wenn sie miteinander spielen, dann sehen sie glücklich aus.
Nur eine Phase?
Die Problematisierung findet eher in den Köpfen der Erwachsenen statt. Das sei doch einfach nur ein „Rollenspiel“. Die „Phase“ ginge wieder vorbei. Was dabei ausgelassen wird: dass es sich beim Junge- oder Mädchensein dann konsequenterweise ja auch nur um Phasen handeln müsste. Ich selbst kann es gut hören, mit geschlechtlichem Ausdruck spielerisch umzugehen. Und gleichzeitig zählt das binäre Geschlechtersystem eben zu den ernsten Spielen der Gesellschaft.
Man braucht ja nur einen Schuh- oder Spielzeugladen zu betreten. Dort wird ja nicht etwa gefragt, ob das Spielzeug für einen Dino oder ein Einhorn sei. Genauso wenig wird man beim Schuhkauf darauf hingewiesen, dass man in der Hotzenplotz-Abteilung falsch sei. Zu den Herrenschuhen nach unten bitte. Ob man nun einfach auf der Suche nach einem schönen Schuh oder einem schönen Geschenk ist, spielt gar keine Rolle. Es wird vergeschlechtlicht, zugeordnet und unsichtbar gemacht. Männer hier, Frauen dort entlang!
Wir fördern unsere Kinder in ihrer geschlechtlichen Selbstbestimmung durch Akzeptanz ihrer Selbstdefinitionen und durch Verzicht auf Normanforderungen. Das gelingt durch Vorleben (zum Beispiel wenn Papa sich die Nägel lackiert), durch geschlechterinklusive Sprache oder auch durch eine bewusste Auswahl von Spielsachen und Kinderliteratur. Nicht-binäre Puppen of Colour und Geschichten, die Vielfalt atmen, finden im Kinderzimmer genauso Platz wie die Bilderbuchfamilienklassiker.
Es geht nicht um Zensur, sondern um das Angebot an Möglichkeiten und Zwischenräumen, in denen sich geschlechternonkonforme Kinder wiederfinden können. Und weil mich viele fragen: Natürlich dürfen auch Märchen nicht fehlen. Ich habe mir da einfach ein paar Post its mit alternativem Vorlesetext an den kritischen Stellen reingeklebt. Mein Lieblingsbuch ist übrigens die Neuerzählung von Schneewittchen. Spieglein, Spieglein, wer ist die mutigste Person im ganzen Land? Und als Papa fällt die Antwort da natürlich leicht: Isa, Janus, Abendstern!
Glossar: Was bedeutet was?
Genderfluid (= geschlechterflüssig) bezeichnet eine Geschlechtsidentität, die zwischen verschiedenen Geschlechtern wechselt. Das kann situativ sein, vom Kontext oder den anwesenden Personen abhängen oder über längere Phasen wechseln. Genderfluid ist eine Variante nicht-binärer Identifikation.
Nicht-binär bezeichnet das geschlechtliche Selbstverständnis jenseits der binären Ordnung von männlich oder weiblich, zum Beispiel dazwischen oder jenseits von männlich oder weiblich, genderfluid oder agender. Nicht-binär wird oft als Überbegriff verschiedener nicht-binärer Identifikationen genutzt.
Agender bezeichnet Menschen, die sich mit keinem Geschlecht identifizieren, die zum Beispiel Geschlecht als für die eigene Identität irrelevant begreifen beziehungsweise bei denen es ein Gefühl von Unwohlsein und Irritation bis hin zu einem dauerhaft anhaltenden potenziell traumatisierenden Schmerz erzeugt, egal welchem Geschlecht zugeordnet zu werden. Agender wird oft dem Überbegriff nicht-binär zugeordnet, wobei in den letzten Jahren zunehmend eine eigenständige Nennung gefordert beziehungsweise praktiziert wird.
Quelle: Interventionen für geschlechtliche & sexuelle Vielfalt