Selbstständig werden
Abenteuer Auslandsschuljahr
Ein Schuljahr im Ausland zu verbringen, ist eine große Herausforderung – für die Jugendlichen ebenso wie für ihre Eltern. Dabei können besonders die Schülerinnen und Schüler auch von schwierigen Erfahrungen profitieren.
veröffentlicht am 21.02.2024
Zehn Monate allein auf einem anderen Kontinent – für manche Teenager ein Traum, für andere undenkbar. Ida Seifer aus Essen hat sich getraut. Im Alter von 15 Jahren ist die heute 16-Jährige 2022 zu einer Gastfamilie in die USA aufgebrochen, um dort neue Erfahrungen zu sammeln und eine zwar ähnliche, aber in vielem doch auch ganz andere Kultur intensiv kennenzulernen.
Statt auf das Essener Don-Bosco-Gymnasium ging sie in Fayetteville im Bundesstaat North Carolina zur Highschool und lebte zehn Monate lang bei einer Gastfamilie. „Es war auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig“, sagt sie über das Zusammenleben mit ihren baptistischen Gasteltern. „Ich bin sehr oft mit ihnen in die Kirche gegangen“, erzählt sie. Dabei war ihr der Umgang mit dem christlichen Glauben in der Gemeinde fremd. „Es war ganz anders als die katholische Kirche, die ich von zu Hause kenne.“
Erfahrungen wie diese machen ein Auslandsjahr aus, weiß Franz J. Neyer. Unter der Leitung des Psychologieprofessors der Universität Jena hat eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern 741 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren befragt, um Unterschiede in der Entwicklung durch die Zeit in der Ferne festzustellen. Für die jungen Menschen gehe es darum, dem Neuen, Aufregenden und Unerwarteten zu begegnen, erklärt der Wissenschaftler. Und um „die Erfahrung, dass man selbst zurechtkommt“. Eine neue Sprache, ein neues soziales Umfeld, vielleicht auch ein neues Schulsystem: „Man kommt irgendwohin und es ist völlig unklar, wie man sich da bewährt. Und dann probiert man das aus.“
Ida, die drei ältere Geschwister hat, tat sich besonders zu den großen Festen schwer. „Die ersten Monate war alles neu und spannend“, erinnert sie sich. „Um Weihnachten herum habe ich dann aber doch angefangen, meine Familie zu vermissen. Das war dann schon schwierig für mich.“ Dazu trug bei, dass ihre baptistische Gastfamilie kulturelle und kirchliche Feste wie Thanksgiving, Halloween und Weihnachten nicht so feierte, wie Ida es für die USA erwartet hatte. „Baptisten sind da ein bisschen schlichter“, erklärt Idas Vater Uwe Seifer, der gemeinsam mit seiner Tochter und seiner Frau bewusst eine kirchliche Schule für den Auslandsaufenthalt ausgesucht hatte. „Wir Katholiken feiern das Weihnachtsfest fulminanter.“
„Ich habe einiges dazugelernt“
Solche im ersten Moment negativen Erlebnisse bieten Chancen, wie Psychologe Neyer betont. „Indem man sich mit der Herausforderung konfrontiert, kann man etwas gewinnen“, sagt er. So haben die Forschenden herausgefunden, dass junge Menschen in einem Auslandsjahr offener für Erfahrungen werden, emotional stabiler und sozial kompetenter.
„Die Erfahrungen haben mir auf jeden Fall viel gebracht“, sagt auch Ida über ihre Zeit in den Vereinigten Staaten. „Ich habe einiges dazugelernt – über das Land natürlich, aber auch über mich selbst.“ So habe sie zum Beispiel gemerkt, dass sie sich in Europa sehr wohlfühlt. Auch dass sie die Monate so weit weg von der Familie gemeistert habe, „war eine sehr gute Erfahrung“, betont sie.
Den Eltern fällt es oft nicht leicht, ihrem Kind ein ganzes Schuljahr allein in einem anderen Land zuzutrauen. „Es war schon schwierig, loszulassen“, berichtet auch Uwe Seifer. Eine sorgsame Auswahl des Anbieters und des richtigen Ortes für ihre Tochter war Idas Eltern deshalb besonders wichtig. Sie haben mehrere Organisationen verglichen und sich zu den Vor- und Nachteilen von infrage kommenden Gastländern informiert. Außerdem erkundigte sich Idas Vater bei ihren Lehrkräften über deren Sicht. Denn die Zeit außerhalb der eigenen Schule in Deutschland bedeutet, dass Stoff nachgeholt werden muss. „Die Schulleitung und auch einzelne Lehrer haben gesagt, da sehen sie kein Problem“, erinnert er sich.
„Die Verbindung zwischen Eltern und Kind bleibt eng“
Angst davor, dass die Beziehung zu ihren Kindern durch die Zeit im Ausland in die Brüche gehen könnte, müssen Eltern nicht haben. „Wenn man weggeht“, sagt Franz J. Neyer, „dann immer mit dem Versprechen, dass man wiederkommt.“ Die Verbindung zwischen Eltern und Kind bleibe eng, auch wenn die Jugendlichen sie hinterfragen, erklärt er.
Durch Social Media, Messengerdienste und Videocalls ist es heute auch viel einfacher und günstiger geworden, trotz der großen räumlichen Distanz in Kontakt zu bleiben. „Das ist schön für die heutigen Jugendlichen“, findet Neyer. Es könne aber auch dazu führen, „dass man sich vielleicht nicht immer auf etwas Neues einlässt“. Ida hat deshalb auf Anraten des Anbieters ihres Auslandsaufenthalts meist nur einmal pro Woche mit der Familie telefoniert. Über ein digital geteiltes Fotoalbum konnten ihre Eltern und Geschwister unter der Woche zusätzlich Idas Aktivitäten verfolgen.
Mit Freunden blieb Ida ebenfalls in Kontakt. Viele machten in dieser Zeit selbst ein Auslandsjahr. Eine Freundin lebte sogar nur 45 Minuten von ihr entfernt bei einer Gastfamilie. Aber auch neue Kontakte in Fayetteville zu knüpfen, fiel der Schülerin nicht schwer. „Ich bin immer noch in Kontakt mit meinen Freunden in Amerika“, berichtet sie.
„Ich würde es wieder so machen“
Die Sprache war dabei kein Problem. „Ich bin da einfach reingewachsen“, erinnert sich Ida. „Immer wenn mir ein Wort nicht eingefallen ist, haben mir alle versucht zu helfen, oder ich konnte es umschreiben. Da lacht dich auch keiner aus.“ Und auch wenn sie sich mit der Zeit der Umgangssprache angepasst hat, ist sie überzeugt: „Schulenglisch ist eine gute Grundlage.“ Für den Englischunterricht in Deutschland hat sie enorm profitiert, vom Sprechen der Sprache ebenso wie vom Kennenlernen der amerikanischen Kultur. Beim Unterrichtsthema „American Dream“ etwa konnte sie Erfahrungen aus erster Hand einbringen. „Das hat bei mir perfekt gepasst“, freut sie sich.
Für ihren Vater war dieses Vertiefen der Sprache und besonders das Erleben von Kultur der Hauptgrund für das Jahr seiner Tochter in den USA. Ihm war wichtig, dass sie das Leben in den Vereinigten Staaten in einer ähnlichen Situation erlebt wie in Deutschland, als Teil einer Familie und im Schulalltag. Psychologe Neyer bestätigt, dass die Erfahrung junger Menschen prägender ist, wenn sie im Alltag einer Familie mitleben. Bei einem Auslandssemester während des Studiums zum Beispiel „bleiben die Deutschen häufig unter sich“, sagt er. Bei Jugendlichen, die bei einer Gastfamilie leben, sei das „eine ganz andere Erfahrung – prägender und herausfordernder“.
Das zu erleben, hat aber auch seinen Preis. Je nach Land, Anbieter und Ausgestaltung fallen für ein Schuljahr im Ausland meist deutlich mehr als 10.000 Euro an, in Ländern wie den USA mitunter auch mehr als 15.000 Euro. „Man unterschätzt die finanziellen Kosten“, sagt auch Uwe Seifer. „Egal, was man rechnet, es passiert immer noch was.“ Dennoch sagt er: „Ich würde das wieder so machen.“
Auch Ida kann sich vorstellen, später erneut länger ins Ausland zu gehen. Dann, um ein anderes Land besser kennenzulernen. „Ich bin auf jeden Fall offen dafür“, sagt sie.