Besondere Förderung
Anders als die anderen
Jedes Kind hat Stärken und Schwächen. Aber bei manchen fallen die Schwächen besonders auf: Massive Lernschwierigkeiten oder Probleme im sozial-emotionalen Bereich machen Kinder schnell zu Außenseitern und setzen Eltern unter Druck.
veröffentlicht am 12.08.2020
Es gab Ärger im Kindergarten. Schon wieder. Finn hat ein anderes Kind geschlagen und sitzt trotzig in der Ecke, als Andrea S. ihn abholt. Die Unterlippe vorgeschoben, den Kopf eingezogen, die Arme ganz fest um sich selbst geschlungen und nicht bereit, sich bei dem anderen Jungen zu entschuldigen oder auch nur mit der Erzieherin zu reden.
Es ist eine Szene, die sich oft wiederholt hat, als Finn in den Kindergarten ging, und die seiner Mutter noch immer in der Seele wehtut. Ihr Sohn ist anders als die anderen, das hat sie damals schon gemerkt. Er redet wenig, formuliert keine richtigen Sätze, schlägt schnell zu. Auch still sitzen oder länger konzentriert zuhören ist nicht sein Ding. „Ich habe immer gedacht, er ist eben ein Wilder und dass das alles schon noch kommt mit der Sprache und der Konzentration“, sagt seine Mutter, die in Wirklichkeit nicht Andrea S. heißt, aber ihren echten Namen und den ihres Kindes nicht öffentlich nennen will. Der Kinderarzt schickte Finn zum Logopäden. Im Kindergarten wurde seinen Eltern empfohlen, ihn einer Sonderpädagogin vorzustellen, die wiederum vorschlug, ihn in eine Fördereinrichtung zu geben statt in den Regelkindergarten. Doch bis Andrea S. und ihr Mann sich tatsächlich zu diesem Schritt durchringen konnten, hat es lange gedauert. „Ich wollte nicht, dass er ausgesondert wird, als ob er nicht gut genug wäre, sondern irgendwie ein Kind zweiter Klasse“, erklärt die Mutter.
Finns Eltern sind damit nicht alleine. Wenn ein Kind sprachlich oder motorisch nicht altersgemäß entwickelt ist, wenn es sozial oder emotional massive Probleme hat, fällt es vielen Eltern schwer, diese Schwächen ihres Kindes auch zu akzeptieren und sich auf besondere Förderung einzulassen. „Sich dieser Realität zu stellen, dass das eigene Kind nicht den eigenen oder gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, ist eine echte Herausforderung für Mütter und Väter“, weiß Lilian Dietz. Die 53-Jährige ist Sprachheillehrerin und arbeitet seit 25 Jahren an der Dominikus Savio Schule, einem Sonderpädagogischen Förderzentrum der Salesianer Don Boscos mit zwei Standorten in Bayern: Pfaffendorf und Ebern. Sie berät Eltern, deren Kinder im Kindergarten oder in der Grundschule durch Lernschwierigkeiten, Sprachauffälligkeiten oder sozial-emotionale Probleme aufgefallen sind.
Alle wollen perfekt sein
„Ich versuche, den Eltern immer deutlich zu machen, dass ihr Kind ein wunderbares Individuum ist. Dass es zwar möglicherweise einen etwas anderen Weg gehen wird, aber dass sie als Eltern diesen Weg begleiten und gestalten können“, erklärt Lilian Dietz. „Und dass sie sich dabei Hilfe holen können.“ Gerade das fällt den Müttern und Vätern aber oft schwer, denn Hilfe zu holen, bedeutet auch, zuzugeben, dass man ein Problem nicht selbst meistern kann. „Das ist eine Problematik unserer Gesellschaft, in der jeder immer funktionieren soll“, findet die Sonderschullehrerin. „Jeder will perfekt sein. Jeder versucht, sein Kind möglichst aufs Gymnasium zu schicken. Wenn ich dann manchen Eltern erklären und erläutern muss, dass die Schullaufbahn ihres Kindes wahrscheinlich ganz anders aussehen wird, dann werden Zukunftsvorstellungen zerstört.“
Deshalb geht Lilian Dietz behutsam vor und nimmt sich viel Zeit, wenn sie sich ein Kind ansieht, das vermutlich besonderen Förderbedarf hat. Wenn zum Beispiel eine Vierjährige im Kindergarten durch Entwicklungsverzögerungen aufgefallen ist und die Eltern einer genaueren Diagnose zustimmen, verabredet sie ein Treffen mit ihnen und dem Kind. Dann rollt die Sonderpädagogin eine große grüne Matte auf dem Boden aus und stellt Spielsachen bereit: Bauklötze, Legespiele, Autos oder Puppen. Mit Kind und Mama setzt sie sich darauf und alle drei spielen miteinander. „Es ist wichtig, dass das Kind sich wohlfühlt und dass eine entspannte Atmosphäre herrscht“, erklärt die Sprachheillehrerin. Beim Spiel beobachtet sie, wie das Mädchen an das Spielmaterial herangeht, wie es agiert, wie es kommuniziert, und stellt kindgerechte Aufgaben wie: „Gib mir bitte mal einen grünen Stein!“ oder „Schraub bitte mal das Glas auf!“ Später geht es am Tisch weiter. Lilian Dietz schaut mit der Kleinen zusammen Bilder an und unterhält sich mit ihr über das, was darauf zu sehen ist: zum Beispiel ein Haus, eine Katze, ein Baum. „Ich höre dabei, wie das Kind spricht, welche Laute vorhanden sind, wie Sätze aufgebaut sind und so weiter.“
Besprochen werden die Beobachtungen und Ergebnisse aus verschiedenen Testverfahren aber erst bei einem zweiten Treffen – ohne das Kind. Denn es soll nicht zuhören müssen, wenn seine Schwächen thematisiert werden. Wobei es bei der Beratung nie nur um die Schwächen geht: „Ich zähle immer auch die Stärken des Kindes auf – und da hat selbstverständlich jedes Kind welche“, betont Lilian Dietz. Denn auch den Eltern gegenüber ist Fingerspitzengefühl gefragt. „Ich teile ihnen meine Beobachtungen und meine Einschätzung mit und dann überlegen wir zusammen, was sie sich für ihr Kind vorstellen können.“
Nicht jeden Tag bangen, dass es Ärger gibt
Und das ist ganz unterschiedlich: Manche sind dankbar für Beratung und Hilfe. Viele holen eine zweite Meinung ein, bevor sie Entscheidungen treffen. Andere blocken Förderangebote völlig ab. Weil sie nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind wirklich Probleme hat – aber auch, weil sie Angst haben, dass ihr Kind stigmatisiert und ausgegrenzt wird, wenn es zum Beispiel auf eine Förderschule statt auf die Regelschule geht. „Leider ist das immer noch so“, bedauert die Sonderschullehrerin. „Die Kinder, die zu uns in die Schule kommen, werden zum Beispiel mit kleinen Rot-Kreuz-Bussen zu Hause abgeholt. Und da herrschen mancherorts schon noch so Vorurteile wie: Rot-Kreuz-Bus ist gleich Förderschule ist gleich dummes Kind.“
Auch Andrea S. hatte Angst davor, dass Finn als blöd abgestempelt würde, wenn er ein Sonderpädagogisches Förderzentrum besucht. Von den meisten anderen Müttern fühlte sie sich ohnehin als „die mit dem schwierigen Kind“ gebrandmarkt und gemieden: „Niemand hat direkt zu mir gesagt, dass mein Kind böse ist oder dumm, aber ich hatte irgendwie immer das Gefühl, die schauen auf Finn herab oder denken, dass ich ihn schlecht erzogen oder nicht genug gefördert habe.“ Im Kindergarten wollten die anderen nicht mit Finn spielen. Er fand keine Freunde, wurde kaum zu anderen nach Hause eingeladen. „Es tut so weh, wenn das eigene Kind immer als das böse gilt. Und es ist so anstrengend, wenn man auf den Spielplatz geht und schon weiß, dass es wieder Ärger geben wird“, erklärt Andrea S. Etwas mehr als zwei Jahre lang haben sie und ihr Mann versucht, Finn trotz aller Probleme im Regelkindergarten zu lassen, haben gehofft, dass mit der Zeit und durch die Logopädie alles besser würde. „Dann hatte ich einfach keine Kraft mehr“, sagt Andrea S. Sie wollte nicht mehr jeden Tag bangen, ob es wieder Ärger im Kindergarten gegeben hatte. Sie wollte nicht ständig das Gefühl haben, dass ihr Kind allen anderen unterlegen war. Und vor allem wollte sie nicht mehr mit ansehen, dass Finn unglücklich war.
„Es sind oft die Mütter, die als Erste einsehen, dass sie die Schwierigkeiten angehen müssen, und die auch offen sind für spezielle Förderangebote“, weiß Lilian Dietz aus Erfahrung. Nicht generell, aber häufig täten sich Väter oder Großeltern viel schwerer, im Besuch einer Fördereinrichtung die Chancen für ihr Kind zu sehen und nicht einen Makel im Lebenslauf.
Förderung genau nach Bedarf
An einem Sonderpädagogischen Förderzentrum wie der Dominikus Savio Schule profitieren die Kinder vor allem durch die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) und die kleineren Klassen: Etwa acht bis zwölf Schüler sitzen in einem der liebevoll gestalteten Klassenzimmer der Dominikus Savio Schule am Standort Ebern. Und das nicht nur zu Corona-Zeiten, sondern immer. „Durch die kleinen Gruppen können wir die Bedürfnisse und Schwierigkeiten jedes einzelnen Kindes viel besser im Blick behalten, als es in einem normalen Kindergarten oder einer Regelschule möglich ist“, erklärt Lilian Dietz. „In einer Kindergartengruppe mit 25 Kindern schafft ein Kind es viel mehr, sich hauptsächlich mit dem zu beschäftigen, was es ohnehin gut kann, und Aufgaben aus dem Weg zu gehen, bei denen es Schwierigkeiten hat. In unseren kleinen Gruppen können wir mehr darauf achten, dass genau das gefördert wird, was das jeweilige Kind noch in seiner Entwicklung braucht.“ In den Schulklassen ist das ähnlich: In der Regelschule wird im Lehrstoff immer weiter vorangegangen – auch wenn ein einzelnes Kind noch nicht so weit ist. Im Förderzentrum ist mehr Zeit, auf individuelle Schwierigkeiten und Bedürfnisse einzugehen. Die Schüler dort haben zum Beispiel drei Jahre Zeit, um den Stoff der ersten beiden Grundschuljahre zu lernen. Im Unterricht wird langsamer vorangegangen, öfter wiederholt und manches mit anderen Methoden erarbeitet. Außerdem können die Kinder bei Bedarf extra durch Logopäden oder Ergotherapeuten gefördert werden, wenn sie nachmittags die Tagesstätte im Förderzentrum besuchen.
„Wir unterstützen die Kinder intensiv, und mancher Entwicklungsrückstand lässt sich gut aufholen“, sagt die Sonderschullehrerin. Sie findet es deshalb wichtig, dass Kinder möglichst früh gefördert werden. Und sie macht den Eltern in den Beratungsgesprächen klar, dass das bayerische Schulsystem inzwischen durchlässig ist: Die Förderschule ist ein Angebot, für das Eltern sich freiwillig entscheiden. Diese Entscheidung können sie aber jederzeit ändern: Wenn das Kind gut aufgeholt hat, kann es zurück an die Regelschule.
Eine Garantie dafür, dass ein Kind nach ein paar Jahren an der Förderschule alle Schwächen ausgeglichen hat, gibt es allerdings nicht. Wenn ein Kind etwa massive Lernschwierigkeiten hat, kann es durch die intensive Unterstützung zwar vorankommen und sich Strategien aneignen, die es ihm erleichtern, Wissen aufzubauen, es wird aber trotzdem ein Leben lang kompensieren müssen. „Deshalb brauchen Kinder mit besonderem Förderbedarf den Rückhalt und die Unterstützung ihrer Eltern“, betont Lilian Dietz. „Wir als Schule können die Kinder nur ein paar Jahre lang begleiten – ihre Eltern stehen ihnen viel länger zur Seite.“
Die richtige Entscheidung für das Kind
Das ist anstrengend, erfordert viel Zeit, Geduld und Nerven. Aber es lohnt sich. Lilian Dietz hat die Erfahrung gemacht, dass ein Kind mit besonderem Förderbedarf dann am besten mit den eigenen Schwächen umgehen kann, wenn die Eltern es so akzeptieren, wie es ist. Wenn sie es schaffen, ihm seine Schwächen zuzugestehen, es zu unterstützen und seinen Lebensweg positiv zu begleiten.
Finn besucht heute die zweite Klasse einer Förderschule. Es gefällt ihm dort. „Er ist umgänglicher geworden und wirkt fröhlicher“, findet seine Mutter. Sprachlich hat er ebenfalls aufgeholt, obwohl immer noch ein Unterschied zu Gleichaltrigen besteht. Auch Andrea S. selbst ist erleichtert, weil sie das Gefühl hat, die richtige Entscheidung für ihr Kind getroffen zu haben. Durch den Kontakt zu den anderen Eltern der Förderschule ist ihr außerdem bewusst geworden, dass ihr Kind nicht das einzige ist, das Schwierigkeiten hat. Sie hofft noch immer, dass Finn eines Tages auf eine Regelschule gehen wird. „Aber der Druck, dass er so sein soll wie die anderen, ist erst mal raus“, sagt Andrea S. „Seinen Weg wird er schon finden.“