Psychologie

Wenn das Lernen schwerfällt

Bei Grundschulkindern werden immer häufiger Lernstörungen festgestellt. Zwei Mütter erzählen vom Ringen um Diagnosen, hilfreichen Therapien und davon, wie gut es tut, die richtige Unterstützung zu erhalten.

veröffentlicht am 23.08.2022

„Ihr Kind ist aufmüpfig!“, „Das wächst sich aus!“, „Helikoptereltern sehen ja immer Probleme!“ Familien, in denen ein Kind mit Lernstörung aufwächst, sind solche Sätze gewöhnt. Hilfreich sind sie nicht. Viele Eltern spüren früh, dass etwas nicht stimmt. Aber erst in der Grundschule treten die Probleme deutlich zutage: Wenn das Kind nicht mehr mitkommt, der Unterricht zum Kraftakt und die Hausaufgaben zur Zerreißprobe werden.
 
Zu den bekanntesten Lernstörungen gehören die Lese- und Rechtschreibstörung sowie die Rechenstörung. Daneben gibt es weniger bekannte Formen wie die Entwicklungsstörung Dyspraxie. Manchmal vergehen Jahre von der ersten Auffälligkeit bis zur Diagnose. Es ist vor allem diese Phase, die Familien zermürbt und die betroffenen Kinder stark belastet. So wie Emil Fischer aus Bonn.
    
Schon in der ersten Klasse der Grundschule fällt auf, dass er im Deutschunterricht nicht mitkommt. Während die anderen Kinder schon erste Sätze lesen, geht es bei Emil nicht voran. „Im zweiten Schuljahr war er so frustriert, dass er sich im Unterricht unter seinem Tisch versteckte“, erzählt seine Mutter Uschi. Die Lehrerin vermutet eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, und so führt der Weg zu einem Bonner Kinderpsychiater. „Es gab ein Erstgespräch, drei Testtermine und nach fünf Monaten ein Abschlussgespräch. Erst da sagte uns der Psychiater, dass er keine Diagnose stellen könne, weil Emil die Testungen nicht mitgemacht habe“, sagt Uschi immer noch fassungslos. „Wir haben so viel Zeit verloren, während es in der Schule immer schlechter lief.“
 
Ohne Diagnose wird Emil trotz seiner Probleme genauso beschult wie alle anderen auch. Er erhält keinen Nachteilsausgleich, also etwa längere Zeit für Klassenarbeiten oder besondere Hilfsmittel. Am Ende der zweiten Klasse kann Emil noch keine Wörter lesen. Er muss das Schuljahr wiederholen. Für den sensiblen Jungen ein Desaster. In der neuen Klasse bleibt Emil ein Außenseiter und macht kaum Fortschritte beim Lesen. „Seine Lehrerin war sehr bemüht, konnte Emil aber nur begrenzt unterstützen. Lernstörungen gehören leider nicht zum Lehramtsstudium.“

Endlich eine Diagnose!

In ihrer Not recherchiert Uschi im Internet und findet eine Lerntherapeutin. Sie weist die Familie auf eine mögliche auditive Wahrnehmungsstörung hin. Und tatsächlich wird diese von einem Spezialisten diagnostiziert. „Emil hört gut, aber er kann unterschiedliche Geräusche nicht filtern. In seinem Gehirn kommt das Rascheln von Papier genauso laut an wie die Stimme des Lehrers.“ Im normalen Geräuschpegel des Klassenraums geht dadurch vieles unter. „Emil muss sich mehr konzentrieren als andere Kinder und die Verarbeitung im Kurzzeitgedächtnis ist eingeschränkt.“ Ein privat engagierter Sonderpädagoge schafft es dann auch, Emil die Angst vor dem Lese-Rechtschreib-Test zu nehmen, und stellt eine ausgeprägte Legasthenie fest. Für die Familie ist die Diagnose eine Erleichterung.
 
Heute ist Emil elf Jahre alt. Mithilfe seiner Lerntherapeutin hat er bis zum Ende der Grundschulzeit lesen gelernt. Mittlerweile hat er einen anerkannten Förderschwerpunkt im Bereich Hören und Kommunikation und besucht die Integrativklasse einer Bonner Gesamtschule. „Hier werden seine Probleme ernst genommen und gute Lösungen erarbeitet“, freut sich Uschi. Einmal in der Woche kommt eine Sonderpädagogin, die Emil speziell fördert, und verschiedene Nachteilsausgleiche erleichtern ihm das Lernen. „Die Lektüre in Deutsch kann er als Hörbuch hören, für Arbeiten bekommt er viel Zeit und seine Rechtschreibung wird nicht bewertet. Wir haben nun endlich das Gefühl, richtig zu sein“, sagt Uschi. 
 

Aber die letzten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. „Ich habe viel für Emil kämpfen müssen und auch meine Arbeitszeit reduziert, um ihn zu unterstützen. Vor allem in der Lockdownzeit sind wir an unsere Grenzen gekommen.“ Von Anfang an hätte sich Uschi mehr Austausch und Unterstützung gewünscht. „Ich musste alle Ansprechpartner mühevoll suchen und auch vieles selbst bezahlen, solange keine offizielle Diagnose da war. Viele können sich das gar nicht leisten.“ Probleme, die auch Anja Gehlken aus Rödinghausen kennt. Ihr Sohn Lukas hat Dyspraxie, eine Entwicklungsstörung, die sich auf Motorik, Sprache und Handlungsplanung auswirken kann.

Dyspraxie – eine unsichtbare Behinderung

Bei dem heute 19-Jährigen sind Bewegung und Sprache betroffen. „Er musste Deutsch mühsam wie eine Fremdsprache erlernen“, erklärt Anja. In der Schule fällt ihm vor allem das Schreiben schwer, denn er kann die Bewegung nicht automatisieren. „Er muss bewusst darüber nachdenken, wie er den Stift hält, wie fest er aufdrückt und wie die Buchstaben geformt werden“, erklärt Anja.
 
Dafür braucht es viel Konzentration und es fällt den Kindern trotz normaler Intelligenz schwer, im Unterricht mitzuhalten. „Stellen Sie sich vor, Sie sollen eine Matheaufgabe lösen und gleichzeitig ‚Bruder Jakob‘ singen“, heißt es anschaulich in einem Arte-Film über Dyspraxie. Dass der deutsch-französische Sender das Thema aufgreift, kommt nicht von ungefähr, denn im Nachbarland gibt es sogar ausgewiesene Dyspraxie-Schulen.  
 
In Deutschland dagegen ist die Lernstörung nahezu unbekannt, obwohl etwa zwei Kinder pro Schulklasse davon betroffen sind. Anja und ihr Mann Markus müssen nach der Diagnose Lehrerinnen, Kinderärztinnen und der Krankenkasse immer wieder erklären, worum es überhaupt geht. Mithilfe von Studierenden bauen sie schließlich die Seite dyspraxie-online.de auf, bringen ein Buch heraus und berichten in den Medien von der „unsichtbaren Behinderung“. Mit Erfolg. Die Facebook-Gruppe „Dyspraxie Deutschland“ hat mittlerweile über 1.000 Mitglieder, die sich regelmäßig über Diagnostik, Hilfsmittel, Anlaufstellen und Nachteilsausgleiche austauschen. Einmal im Jahr gibt es ein Treffen, an dem betroffene Familien untereinander und mit Fachleuten sprechen. „Es ist so wichtig, sich damit nicht alleine zu fühlen“, sagt Anja Gehlken, die sich in den letzten Jahren immer wieder für Lukas starkmachen musste. Er ist trotz Handicaps seinen Weg gegangen und macht nun Fachabitur, um Industriekaufmann zu werden.
 
Lernstörungen prägen den gesamten Familienalltag, erfordern viel Struktur und zerren oft an den Nerven aller Beteiligten. „Deshalb ist es wichtig, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren“, sagt Uschi Fischer. Nur wenn es ihr selbst gut geht, kann sie entspannt mit der Situation umgehen und Emil in dem bestärken, was er richtig gut kann. „Er spielt super Hockey und ist ein echter Mathecrack. Daraus zieht er Kraft und Selbstbewusstsein“, sagt sie und fügt lächelnd hinzu. „Im Fenster seines Lernstudios hängt ein wichtiger Satz: Jeder ist in irgendetwas Weltmeister!“


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