Noch mal von vorn

Wenn Kinder eine Klasse wiederholen müssen

Etwa fünf von 200 Schülerinnen und Schülern drehen in Deutschland und Österreich derzeit eine Ehrenrunde. Ob dieser Umweg ein Erfolg wird, hängt von vielen Faktoren ab.

veröffentlicht am 28.05.2024

Wenn das Minus hinter der Vier immer länger wird und Lernen nur noch anstrengt, steht oft die Frage nach einer Klassenwiederholung im Raum. Für manche kann es der richtige Schritt sein. Andere geraten ins Straucheln. Lena, Mia und Olaf haben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Lena und Mia haben an verschiedenen Grundschulen die dritte Klasse wiederholt. Bei beiden liegt es damals nicht an den Noten. Mia kämpft jedoch wegen AD(H)S mit Konzentrationsproblemen. Lena ist sehr jung in ihrer Klasse und hat wegen ihrer Dyskalkulie, also ihrer Rechenstörung, Schwierigkeiten in Mathe. Als es in der dritten Klasse um die Wahl der weiterführenden Schule geht, haben beide Mütter das Gefühl: Es ist zu früh.

„Lenas Klassenlehrerin ist damals gar nicht auf ihren Förderbedarf in Mathe eingegangen“, erzählt ihre Mutter Verena. „Sie war anspruchsvoll, gab viele Hausaufgaben auf. An denen saßen wir nachmittags stundenlang.“ In der Klasse hat Lena nur wenige Freunde, wird in der Pause geärgert. Irgendwann geht sie nur noch mit Bauchweh zur Schule.

Verena spricht mit anderen Müttern und Lenas Lerntherapeutin und kommt zu dem Schluss, dass eine Wiederholung ihrer Tochter guttun könnte. Lenas bester Freund besucht die zweite Klasse. Dort unterrichtet eine engagierte Lehrerin, die sich gut mit Dyskalkulie auskennt. Zum Glück ist auch die Schule der Meinung, dass Lena dort gut aufgehoben wäre, und so wird sie zum Halbjahr zurückgestuft.

„Es war die beste Entscheidung unseres Lebens“, sagt Verena heute dankbar. Ihre Tochter findet sofort Anschluss und die neue Lehrerin geht wunderbar auf sie ein. „Sie hat mit unterschiedlichen Lernmaterialien und -plänen unterrichtet und Lena die richtigen Hilfen gegeben.“ Schnell entwickelt das Mädchen wieder Freude am Lernen und beendet die Grundschule mit einer Eins in Mathe, die sie bis heute hält.

Eine Wiederholung kann belastend sein

Mit gemischteren Gefühlen schaut Monika auf die Wiederholung ihrer Tochter Mia. „Sie kam in ihrer alten Klasse gut klar, hatte eine tolle Lehrerin. Aber als das Thema weiterführende Schule aufkam, habe ich gemerkt, dass sie einfach noch nicht so weit war.“ Gemeinsam mit der Klassenlehrerin entscheidet sie, Mia wiederholen zu lassen. Anders als bei Lena verschlechtert sich dadurch die Situation.

„Für ihre Entwicklung hat sie das Jahr gebraucht“, sagt Monika rückblickend. Gleichzeitig aber hat es ihr Leben erschwert. „Es begann damit, dass sie nicht in ihre Wunschklasse kam. Dort hätte sie schon Kinder gekannt.“ Stattdessen landet das verträumte Mädchen in einer lauten und wilden Lerngruppe, in der es nicht richtig Fuß fasst. „Auch ihre Lehrerin hat sie nur wenig unterstützt“, sagt Monika bedauernd.

„Es ist wichtig, dass Lehrkräfte den Kindern in dieser Situation helfen, Defizite auszugleichen und Stärken auszubauen“, sagt Diplom-Pädagoge Paul Fabian, der am Institut für Schulentwicklung und Schulforschung zu irregulären Brüchen im Bildungsverlauf forscht. Einfach nur den Stoff zu wiederholen, reicht in der Regel nicht aus und kann sogar kontraproduktiv sein. „Müssen Schülerinnen und Schüler auch die Inhalte ihrer starken Fächer zweimal machen, kann das Interesse am Schulstoff schnell nachlassen.“

Manchmal kann Unterforderung auch dazu führen, dass ein Kind völlig die Lust an Schule verliert, wie die Geschichte von Olaf zeigt. „Für ihn war die Schule immer eher sozialer Treffpunkt als Lernort“, erzählt seine Mutter Anna. Er ist beliebt, verbringt seine Freizeit gerne mit Freunden beim Fußball. Lernen steht im Hintergrund. „In der Grundschule kam er damit durch. Zwar wurde eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert, aber das schränkte ihn kaum ein.“

Das Selbstwertgefühl kann leiden

Schwieriger wird es auf der Realschule. Deutsch und Englisch machen ihm Probleme. „Trotzdem hat er weiterhin nur das Minimum getan. Seine Leistungen fielen ab. Schließlich musste er die siebte Klasse wiederholen.“ Was dem Jungen eigentlich helfen soll, entpuppt sich als Startschuss zur Talfahrt. „Zwar kam er in der neuen Klassengemeinschaft gut an, aber sein Selbstwertgefühl hatte gelitten“, erzählt Anna.

„Eine Klasse zu wiederholen, heißt, du hast ein Ziel nicht erreicht. Manche spornt das an, andere müssen sich neu sortieren“, erklärt Paul Fabian. Olaf sucht in der Situation Bestätigung über Gleichaltrige, er spielt den Klassenclown. „Gerade für Jugendliche ist es oft wichtiger, ihren Platz in der Gruppe zu finden, als zu lernen. Das kollidiert mit den Erwartungen der Schule“, erklärt Fabian.

Olafs Lehrerinnen und Lehrer sind mit dem wilden Teenager überfordert. „Wahrscheinlich musste er die Schule deshalb verlassen“, sagt Anna. „Er bekam auf dem Zeugnis wieder eine Fünf statt einer Vier minus, und weil er nicht zweimal sitzenbleiben konnte, war es das.“ Da Olaf noch schulpflichtig ist, kommt er in eine Ausbildungsvorbereitungsklasse. Dort fühlt sich der 15-Jährige unterfordert und fehl am Platz.

Er beginnt, zu schwänzen, quartiert sich heimlich bei einem Freund ein, statt auf Klassenfahrt zu gehen. Seine Eltern kommen nicht mehr an ihn heran. „Olaf hockte nur noch am Computer, ließ sich nichts sagen.“ Über ein Jahr verweigert er die Schule, nimmt dafür sogar Sozial­stunden in Kauf. Erst als sich ein Fußball-Kumpel bei ihm meldet, der in die gleiche Klasse geht, kommt die Motivation zurück.

Ab da geht Olaf wieder zur Schule, schafft spielend den Hauptschulabschluss und macht eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Die Berufsschule achtet auf seine Stärken und so entwickelt Olaf den Ehrgeiz, Klassenbester zu sein. Für ihn kein Problem. Anna ist sicher: „Hätte Olaf damals eine Alternative zur Schule gehabt – vielleicht ein berufspraktisches Jahr –, hätte er nicht sitzenbleiben müssen und es wäre besser gelaufen.“

Alle müssen an einem Strang ziehen

Etwa 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler erleben Brüche im Bildungsweg. „Sie sind ein starker Risikofaktor dafür, dass Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen, sobald die Schulpflicht nach neun Jahren endet“, sagt Bildungsforscher Fabian. Statt weiter die Schulbank zu drücken, entscheiden sich viele für Jobs als ungelernte Arbeiter, um schnell Geld zu verdienen.

Auch deshalb wird die Frage diskutiert, wie sinnvoll das Wiederholen ist. Viele Eltern und Lehrkräfte möchten gerne daran festhalten. „Sie gehen davon aus, dass Schülerinnen und Schüler so ihre Leistung stabilisieren. Unsere Studie und die vieler Kolleginnen und Kollegen zeigen aber, dass das überwiegend nicht der Fall ist.“ Ein Schuljahr noch mal zu machen, ist kein Garant dafür, dass es künftig besser läuft.

Einige Rahmenbedingungen kann man jedoch beeinflussen. Nicht nur Lehrkräfte, auch Eltern können dabei einen wichtigen Beitrag leisten. Indem sie ihr Kind einfühlsam begleiten und beobachten, wie es sich in der neuen Klasse einfindet. Tauchen Probleme auf, ist es wichtig, dass alle offen miteinander sprechen. Dort, wo Lehrkräfte, Eltern und Lernende an einem Strang ziehen, kann das Wiederholen zum Erfolg führen.

Portrait Paul Fabian

Der promovierte Diplom-Pädagoge Paul Fabian hat am Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund im Projekt NEPS (Nationales Bildungspanel) mitgearbeitet. Er erforscht Bildungsprozesse in Deutschland und sammelt in Langzeitstudien Daten zu Bildungswegen von Schülerinnen und Schülern. Sein Forschungsschwerpunkt befasst sich mit irregulären Brüchen im Bildungsverlauf – insbesondere Klassenwiederholungen. Seit März 2024 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Erziehungs- und Sozialisationsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München.


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