Starke Frau

Bilder, die unter die Haut gehen – ein Porträt der Fotografin Alea Horst

Alea Horst ist als Fotografin und Nothelferin in Krisengebieten unterwegs. Sie dokumentiert die Situation von flüchtenden Menschen ebenso wie Kinderarbeit in Bangladesch und andere Verbrechen auf der Welt.

veröffentlicht am 01.12.2022

Manchmal schlägt man im Leben eine Richtung ein, aus der es kein Zurück mehr gibt. So erging es auch Alea Horst aus dem Taunus. An einem Neujahrsabend vor sieben Jahren traf sie eine Entscheidung, die alles auf den Kopf stellte.

Wie so viele Menschen hält die Hochzeits- und Familienfotografin an diesem 31. Dezember 2015 Rückschau. Das Jahr war gut, sie ist erfolgreich in ihrem Job, hat sogar einen begehrten Foto-Award erhalten. Ihre beiden Kinder sind im Teenageralter und werden langsam flügge. Alea selbst ist gerade einmal 33, und während sie gemütlich im warmen Wohnzimmer sitzt, wird die Frage immer drängender: Wo will ich in meinem Leben noch hin?

Monatelang schon liegt ihr ein Thema auf der Seele: die Not der Geflüchteten auf dem Mittelmeer. „Ich sah diese Bilder von Kindern in den Trümmern von Aleppo, von verzweifelten Menschen, die in Gummibooten an den Grenzen Europas ankommen. Ich konnte es nicht mehr ertragen“, erzählt Alea. Wie oft hatte sie ihren Großeltern vorgeworfen, dass sie die Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg geschehen ließen. „Nun stand ich an einem ähnlichen Punkt und hatte die Wahl, wegzusehen und mich mitschuldig zu machen oder etwas zu tun.“

In vielen Augen schimmert Todesangst

Alea wird an diesem Abend mit aller Deutlichkeit klar: „Wenn ich jetzt den Arsch nicht hochkriege, werde ich das für immer bereuen!“ Sie folgt ihrem Gefühl. Noch in der Neujahrsnacht bucht sie ein Flugticket nach Griechenland und wirft sich mitten hinein in die Hölle des Flüchtlingslagers Moria. Sie hat keine Ahnung, was sie erwartet, keine Vorstellung, wie genau sie helfen könnte. „Mein Englisch war bescheiden, ich hatte weder eine medizinische Ausbildung noch einen Rettungsschwimmer oder irgendwelche Erfahrungen mit Nothilfe.“

Tatsächlich war Alea aus ihrem 200-Seelen-Dorf Reckenroth bis dahin kaum herausgekommen. In der Nähe geboren und aufgewachsen, fühlt sie sich in der Gegend verwurzelt. Schon als Kind hat sie am liebsten in der Natur gespielt, und auch heute zieht es Alea zum Runterkommen in den Wald, wo sie den Duft der Bäume einatmet. „Ich bin definitiv keine Abenteurerin und hatte auch nicht den Wunsch, die Welt zu sehen“, schmunzelt die dunkelhaarige Frau mit den ausdrucksvollen Augenbrauen. Aber zu Hause zu bleiben, war keine Option.

In Griechenland schließt sich Alea einer kleinen schwedischen Hilfsorganisation an. Gemeinsam mit anderen Helferinnen und Helfern patrouilliert sie am Strand von Lesbos entlang und zieht ankommende Geflüchtete aus dem Wasser. Alte und junge, Männer, Frauen und Kinder – durchnässt und verfroren, am Ende ihrer Kräfte. In vielen Augen schimmert noch die Todesangst von der Überfahrt. Alea verteilt Rettungsdecken und Wasser, spendet Wärme und Trost inmitten einer trostlosen Situation.

„Zum ersten Mal in meinem Leben in der Realität angekommen“

Sie erinnert sich gut daran, was sie empfand, als die ersten Boote ankamen. „Ich habe das ganz intensiv erlebt. Wie Menschen riechen, die Entbehrungen erleiden, wie sie weinen und schreien, aber auch lachen und beten, weil sie es geschafft haben. Wie es sich anfühlt, wenn man diese Menschen in den Arm nimmt.“ Für Alea ist es wie ein Faustschlag in den Magen. „Ich hatte das Gefühl, wach zu werden und zum ersten Mal in meinem Leben in der Realität anzukommen“, sagt die zweifache Mutter.

Während die junge Frau tagelang am Strand hilft, versucht sie, damit klarzukommen, dass viele Menschen draußen auf dem Meer es nicht schaffen. Etwa 40 von ihnen ertrinken – jeden Tag. Darunter sind zahlreiche Kinder. Aleas Wut und die Ohnmacht sind fester Bestandteil ihrer Zeit auf Lesbos. In ihren Nachtschichten versucht sie, im Lager Unterkünfte für Familien und trockene Kleidung zu organisieren. In ruhigeren Momenten verteilt sie Windeln oder wärmt Babyflaschen auf. Regelmäßig kontrolliert sie Kinder, die im Freien schlafen müssen. Atmen sie noch? Erst wenige Tage zuvor ist ein Junge auf dem kalten Betonboden erfroren.

Drei Wochen bleibt Alea vor Ort. Wochen, in denen sie das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl hat, etwas Richtiges und Wichtiges zu tun. Schon bald nach ihrer Rückkehr schreibt sie in ihren Blog: „Im Herbst will ich wieder zurück nach Lesbos.“ Achtmal war sie seither dort, hat geholfen, wo sie konnte. Mit ihrer Kamera porträtierte sie die Menschen, die sie dort traf. Es sind berührende Bilder und Geschichten, die unter die Haut gehen. In ihrem Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns“ gibt Alea den geflüchteten Kindern auf Lesbos ein Gesicht, einen Namen und eine Stimme.

Statt Hilfe gibt es Tränengas

Asra, Alireza und Nida erzählen von ihrer Heimat und der Flucht. Von Not, Unwettern, Krankheit und Angst. Sie berichten von ihrem Leben im Lager, das kein Ort für Menschen ist. Es sind Geschichten von Ungewissheit, vom jahrelangen Warten und von Ungerechtigkeit. Die zehnjährige Tajala erinnert an das große Feuer in Moria, das alles vernichtete. Tausende saßen danach vor dem Lager fest, ohne Wasser oder Essen. „Die Polizei stand am Anfang und am Ende der Straße und hat den Weg versperrt. Wir haben auf Pappe geschlafen, die wir irgendwo gefunden haben.“ Statt Hilfe gibt es Tränengas für alle, die den Ort des Grauens verlassen wollen.

Es sind solche persönlichen Berichte, die katastrophale Orte wie die kleine griechische Insel Lesbos heranzoomen. Sie berühren anders als Tagesschaubilder. Das spürt Alea Horst deutlich, wenn sie mit ihrem Buch auf Lesereise geht und Schulen in Deutschland besucht. „Ich liebe es, mit Kindern in den Austausch zu gehen, und erlebe immer wieder, wie gut ihr moralisches Verständnis ausgeprägt ist. Schon die Kleinen wissen, wie die Dinge eigentlich laufen sollten, was Gerechtigkeit ist und was es bedeutet, Menschenrechte einzuhalten.“

Immer wieder erlebt Alea, wie die Kinder durch ihre Berichte ins Nachdenken kommen. „Wenn sie hören, das Geflüchtete im Asylverfahren ihre politische Verfolgung nachweisen müssen, fragen sie: Und was machen Leute, die das nicht können?“ Wenn Alea mit ihnen überlegt, was die Kinder von Lesbos wohl brauchen, wenn sie nach Deutschland kommen, sagen sie: einen richtig guten Freund. Jemanden, der ihnen hilft, nicht mehr so traurig zu sein. „Solange Kinder in unserer Gesellschaft solche Antworten geben, gibt es Hoffnung“, sagt die Menschenrechtsaktivistin bewegt.

Die Hälfte des Jahres in Krisengebieten unterwegs

Mittlerweile ist Alea etwa die Hälfte des Jahres in Krisengebieten unterwegs. Ihr Mann und ihre Kinder unterstützen sie, auch wenn sie sich oft Sorgen machen. Alea nimmt vor allem die Lebenssituation von Jungen und Mädchen in den Fokus. Sie besucht Trauma-Kindergärten in Jordanien, kümmert sich um Jugendliche in Tunis, berichtet von SOS-Kinderdörfern in Sri Lanka und Syrien. Sie dokumentiert das Elend der Kinderarbeiter in Bangladesch und wagt sich auch nach Afghanistan – gerade in dem Moment, als die Taliban die Macht übernehmen.

„Ich bin damals über Pakistan eingereist und wurde mit meinen Begleitern stundenlang an der Grenze festgehalten“, erinnert sie sich. Die Soldaten durchwühlen ihre Sachen, finden die Kamera, den Laptop, die große Summe Bargeld, die für Sachspenden gedacht ist. „Die Männer verhandelten in ihrer Landessprache. Ich blieb unter meiner Burka ganz still. Ich hatte keine offizielle Ausreisegenehmigung aus Pakistan und es war nicht klar, wie das Ganze ausgehen würde. Im schlimmsten Fall hätte man mich verhaftet und verschleppt.“ Bis heute weiß Alea nicht, wieso sie am Ende unbehelligt weiterreisen und alle Wertsachen mitnehmen konnte.

„Damals bin ich schon ein bisschen ins Schwitzen geraten“, gesteht sie. „Aber obwohl ich auf meinen Reisen so manches Mal in brenzlige Situationen geraten bin, hatte ich nie wirkliche Angst.“ Ob sie an Gott glaubt? „Seit meiner letzten Afghanistanreise nicht mehr“, sagt Alea ehrlich. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie gerade zurückgekehrt und ringt noch mit ihren Eindrücken. Besonders betroffen macht sie das Los der Waisen, wie vaterlose Kinder in Afghanistan genannt werden. Für ein paar Cent verkaufen sie Plastiktüten auf der Straße, weil ihre Mütter kein Geld verdienen dürfen.

Verein unterstützt soziale und medizinische Projekte

Kindheit ist in Afghanistan nicht vorgesehen. Die Jungen und Mädchen kennen es nicht anders und doch wissen sie instinktiv, dass ihnen Unrecht geschieht. „Sie haben Angst da draußen, fürchten, überfahren, vergewaltigt oder verschleppt zu werden.“ So wie Setara, die mit elf Jahren die Verantwortung für ihre Familie trägt. Oft fühle sie sich taub, alles liege wie im Nebel, erzählt sie Alea. Setara würde gerne zur Schule gehen. Doch der Weg junger Afghaninnen ist meist vorgezeichnet. Kaum haben sie ihre Periode, werden viele verheiratet und zum Eigentum eines Mannes, der sich nimmt, was er will, und sie behandelt, wie er will.

Alea schreibt dazu auf Facebook: „Mädchen und Frauen werden in Afghanistan größtenteils entmenschlicht. Was ich in den letzten Wochen hier an entsetzlichen Erlebnissen von betroffenen Frauen erfahren habe, überschreitet meine größten Albträume.“ Schon vor ihrer Reise hatte sie in einem Beitrag bekannt: „Es gibt Tage, da fällt es mir sehr schwer, die Hoffnung zu behalten. Ich bin nur einen Augenblick davon entfernt, mich einigeln zu wollen und die Welt sich selbst zu überlassen.“ Und doch ist ihr klar, dass ihr Engagement einen Unterschied macht, und das lässt sie durchhalten.

Mittlerweile hat Alea Horst ihren eigenen Verein gegründet. Alea e.V. leistet Nothilfe und unterstützt soziale und medizinische Projekte in vielen Ländern. Mit Fotoausstellungen, Vorträgen, Buchprojekten und auf ihren Social-Media-Kanälen versucht Alea, Aufmerksamkeit dafür zu gewinnen, was uns allen am Herzen liegen sollte. Dabei ist sie sehr offen und gibt Persönliches preis. „Wir bauen in unserer Gesellschaft heute viele Mauern auf. Ich reiße Mauern ein“, sagt sie und ist froh um jeden Menschen, den sie so erreicht. Alea hat vor sieben Jahren eine Richtung eingeschlagen und wird diesen Weg weitergehen. Denn sie tut es aus tiefster Überzeugung.  


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