Besonderer Arbeitsplatz

Die Türmerin von Münster

Martje Thalmann ist die erste Frau, die als Türmerin der St.-Lamberti-Kirche in Münster ihren Dienst tut. Seit zehn Jahren gibt sie vom Turm aus täglich außer dienstags von 21 Uhr bis Mitternacht halbstündlich das Zeitsignal.

veröffentlicht am 05.04.2024

Wäre Martje Thalmann Musik- und Geschichtslehrerin geworden, hätten die Kinder wohl sehr viel Spaß mit ihr gehabt. Das 43-jährige Nordlicht mit der rotblonden Mähne versprüht Fröhlichkeit und Enthusiasmus für zwei. Tatsächlich kam es jedoch anders als geplant. Heute verbringt Martje ihre Zeit nicht zwischen Schulbänken, dennoch spielen Musik und Geschichte eine wesentliche Rolle in ihrem Leben. Beide Leidenschaften haben sie sogar an die „Spitze“ ihrer Wahlheimat Münster geführt.

Es ist ein Mittwochabend, Martje beginnt ihren Arbeitstag wie immer. Mit dem E-Bike radelt sie zur größten und schönsten Münsteraner Pfarrkirche Sankt Lamberti. Hier warten exakt 300 Stufen auf sie, zwei vor dem Eingang und 298 drinnen – im neugotischen Kirchturm aus Sandstein. Mit der Kondition einer Frau, die diese Treppe fast täglich erklimmt, bewältigt Martje den Aufstieg ohne große Anstrengung. Ihr Ziel ist ein gemütlicher Raum mit Schreibtisch, Couch und WLAN-Anschluss: die Stube der Türmerin von Münster.

Türmer – ein Amt mit jahrhundertealter Tradition. Die erste urkundliche Erwähnung in der Stadt des Westfälischen Friedens geht auf das Jahr 1383 zurück – mehr als 100 Jahre, bevor Columbus Amerika entdeckte. In dieser Zeit versahen Türmer in ganz Europa ihren wichtigen Dienst. Hoch oben in ihrem Ausguck sorgten sie mit Weitblick für die Sicherheit ihrer Stadt. Per Horn, Trompete oder mit der eigenen Stimme meldeten sie Brände und feindliche Angriffe und sorgten rund um die Uhr für Sicherheit. Auch heute ist die Türmerin ein wachsames Auge der Feuerwehr.

Das Horn signalisiert: Alles ist gut!

In Münster wird seit jeher ein kupfernes Horn für die Signale benutzt. Seit zehn Jahren liegt es in den kundigen Händen von Martje Thalmann. Jede halbe Stunde zwischen 21 und 24 Uhr tritt sie auf die Galerie hinaus und stützt ihr Instrument auf die verzierte Sandsteinbrüstung. Wenn der letzte Glockenschlag verhallt, tutet sie ihr Zeitsignal Richtung Süden, Westen und Norden. Das Tuten um 21 Uhr umfasst dreimal drei Töne, das letzte um Mitternacht viermal drei Töne. Dann wissen die Münsteraner: Alles ist gut! „Das Tuten erinnert an die Dreifaltigkeit und an Glaube, Liebe, Hoffnung. Den Osten lasse ich aus, weil es die heilige Richtung nach Jerusalem ist.“

Das Notsignal mit sehr kurzen Tönen musste Martje bisher glücklicherweise nur selten aussenden. Vorher greift sie ganz modern zum Telefonhörer und nutzt ihre Direktleitung zur Feuerwehr. „Einmal habe ich in der Ferne Rauch entdeckt. Da hat jemand Abfälle im Wald verbrannt und ich konnte Alarm schlagen.“ Auch auf dem Kirchplatz, 75 Meter unter ihr, gab es schon Flammen. „Da hat sich jemand mal einen missglückten Scherz erlaubt und Altpapier in Brand gesteckt.“ Auch hier konnte die Türmerin Schlimmeres verhindern. „Ich habe ein Fernglas, aber gute Augen sind hier oben auf jeden Fall von Vorteil“, sagt sie.

Genauso wie ein Faible für Musik und Geschichte. Martje, die sich als Botschafterin der alten Türmertradition versteht, ist die erste Frau, die in Münster diesen Dienst tut. 2014 setzte sie sich gegen fast 50 Mitbewerber aus ganz Deutschland durch. „Wir wurden gründlich geprüft, denn ein Türmer soll seinen Dienst verlässlich bis zur Rente tun“, erzählt die gebürtige Bremerin. Zu dieser Zeit lebte sie noch in ihrem Studienort Oldenburg.

Heute ist sie hier zu Hause. „Auch wenn ich wohl immer die Zugezogene bleiben werde, bin ich sehr freundlich aufgenommen worden“, sagt sie lachend und winkt einer Gruppe von Touristinnen und Touristen zu, die sich vom Nachtwächter die Altstadt zeigen lassen. Sechs von sieben Abenden in der Woche steht Martje meist im langen Umhang auf dem Turm. „Da ich wie alle Münsteraner Türmer vor mir direkt bei der Stadt angestellt bin, ist von der Gewerkschaft ein arbeitsfreier Tag vorgesehen.“ Und so gibt es dienstags, laut Statistik der sicherste Tag der Woche, kein Signal der Türmerin.

Wie ein zweites Zuhause

Martje selbst klingt, als bräuchte sie den freien Abend eigentlich nicht. „Für mich ist der Turm wie ein zweites Zuhause. Ich freue mich immer auf meine Zeit dort oben“, erzählt sie begeistert. „Wenn ich abends die Treppe hinaufsteige, fühlt sich das Leben mit jeder Stufe leichter an. Man lässt den Trubel und die Probleme hinter sich. Eigentlich bräuchte jeder Mensch so einen Turm“, sagt sie nachdenklich. Der Drang, dem Himmel ein Stück näher zu sein, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. „Ich bin immer schon gerne auf Berge gestiegen oder auf Leuchttürme.“

Die Frau mit den großen blauen Augen genießt den Blick von oben auf die Friedensstadt mit ihrer spannenden Historie und der Verbindung von Tradition und Moderne. „Münster ist groß und klein in einem und die Aussicht auf Dächer und Straßen wird nie langweilig“, schwärmt sie. „Im Winter pfeift der Wind Regen und Schnee um den Turm, im Sommer kann ich wunderschöne Sonnenuntergänge beobachten. Kommt ein Unwetter, warnen mich die Kollegen von der Feuerwehr vor.“ Mittwochs und samstags hat Martje am meisten zu sehen. „Dann kommen die Studenten zum Feiern in die Altstadt.“

Auch wenn sie ihren Dienst alleine versieht: „Langweilig wird mir hier oben nie! Es gibt immer etwas zu tun.“ Martje liebt es, sich in die Geschichte der Türmerei zu vergraben. Besonders gerne recherchiert sie zu ihren Vorgängern in Münster. „Da gibt es tolle Erzählungen. Zum Beispiel hat ein Türmer mal ein Sofa bestellt, das dann tatsächlich frei Haus auf den Turm geliefert wurde“, lacht sie. Wenn Martje nicht forscht, dann schreibt sie einen Blog, beantwortet Medienanfragen und Briefe aus aller Welt. Auch Ostern und Weihnachten verbringt sie auf diese Weise hier oben.

Musik prägt ihr Leben

Nur einmal im Jahr ist die Türmerstube offiziell für Gäste geöffnet. „An Silvester darf ich zehn bis 15 Leute hierher einladen.“ Neben Gemeindemitgliedern aus Sankt Lamberti sind es Freunde und Bekannte, allen voran ihr Mann. Mit ihm und Katze Coco lebt Martje nahe der Altstadt. Beide sind als freiberufliche Musiker – mal solo, mal zu zweit und mal im „Trio CaoTina“ – unterwegs. Sie spielen auf Stadtfesten, Geburtstagen, Hochzeiten und sogar auf Scheidungspartys. „Das liebe ich auch an meinem Beruf als Türmerin. Es ist eine halbe Stelle, die mir Raum lässt, weiteren Aufgaben nachzugehen.“

Und davon gibt es reichlich. Martje hält Vorträge über Brauchtumspflege, illustriert Kinderbücher, ist ausgebildete Atem-, Sprech- und Stimmtrainerin und ein wahres Multitalent, wenn es um Instrumente geht. „Ich komme aus einer Familie, in der Musik von jeher sehr wichtig war. Meine Oma hat mich früh ganz spielerisch an das Klavier und die Noten herangeführt.“ Mit der Zeit folgten Gitarre, E-Bass, Akkordeon, Cello, Laute, Flöten und Gesang. Einige Jahre lang tourte Martje als junge Berufsmusikerin mit verschiedenen Formationen durch die Welt. „Wir waren in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Polen, Skandinavien und sogar in Kanada.“

Heute braucht Martje keine Weltreisen mehr. „Ich finde es schön, in Münster meinen Heimathafen gefunden zu haben. Von hier aus kann ich reisen und mich dann wieder auf mein Zuhause freuen.“ Wie nah ihr die Region mittlerweile ist, zeigt ein Reiseführerformat, das sie 2022 herausgebracht hat. In „Herzstücke im Münsterland“ (Bruckmann Verlag) stellt Martje unter ihrem Künstlernamen Marta Latour besondere Orte der Gegend abseits ausgetretener Pfade vor. „Dafür sind wir viel durch die Lande geradelt, es war herrlich“, schwärmt sie.

Eine echte Berufung

2024 wird Martje mit anderen Musikern aus der Umgebung ihre Lesereise fortsetzen. „Wir bieten eine multimediale Show mit Konzert und Bildern“, freut sich die frischgebackene Autorin. Das alles organisiert sie um ihren Dienst im Turm herum, denn der hat immer Priorität. Wenn Martje Urlaub hat oder krank ist, übernimmt ein Antiquar aus Münster ihren Dienst. Vor einigen Jahren sogar ein paar Wochen lang. „Ich hatte einen typischen Münsteraner Unfall und bin vom Fahrrad gefallen“, erzählt Martje. „Die Schulter war gebrochen und ich konnte einige Wochen das Horn nicht spielen.“

Begegnungen mit Kollegen sind etwas ganz Besonderes für die Türmerin. Dafür reist sie auch mal quer durch Deutschland. „Beeindruckt haben mich die Türmer von Nördlingen. Zwischen 22 und 24 Uhr rufen sie alle halbe Stunde den traditionellen Spruch „So G’sell so“ vom Turm der Stadtkirche herunter. Da muss man gut bei Stimme sein.“ Auch in Österreich und der Schweiz gibt es noch Türmer. Im Osten Deutschlands sind einige Frauen im Dienst, und im Erzgebirge lebt sogar eine ganze Türmerfamilie im Kirchturm des Städtchens Annaberg-Buchholz.

Auf dem Turm der Lamberti-Kirche in Münster ist es mittlerweile spät geworden. Bald ist Feierabend für Martje. Wenn sie später im Bett liegt, wird sie wunderbar schlafen, denn die Stunden hoch oben über der Stadt helfen ihr beim Runterkommen. „Türmerin zu sein, macht mich glücklich. Es ist eine echte Berufung“, strahlt sie. „Es tut gut, Menschen Freude zu machen und Friedenssignale auszusenden – gerade in der heutigen unsicheren Zeit.“ Für Martje Thalmann ist deshalb klar: „Türmerin werde ich bis zur Rente sein. Und vielleicht auch darüber hinaus.“ 

Mehr über Martje Thalmann

Martje Thalmanns Blog Türmerin von Münster
Musik von Martje Thalmann unter ihrem Künstlernamen Marta Latour
Reiseführer „Herzstücke im Münsterland“ von Marta Latour (Bruckmann Verlag)


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