Stille Geburt

Interview mit einem Seelsorger: „Wir dürfen unsere Klage und Wut vor Gott bringen“

Als Krankenhausseelsorger unterstützt der Theologe Tomy Mullur Eltern, die zu einer stillen Geburt in die Klinik kommen oder deren Kind bei oder kurz nach der Geburt verstorben ist. Ein Interview über Glaubenszweifel und ewige Stille.

veröffentlicht am 16.11.2023

Zu welchem Zeitpunkt kommen Sie mit den Eltern in Kontakt?
Wir werden von den Stationen gerufen. Das erste Mal, dass mich eine Hebamme dazugeholt hat, war 2002. Ich war völlig schockiert und überfordert. Die Mutter war kurz vor der Operation. Zwillingskinder: Ein Kind wird versterben, das andere wird leben. Da habe ich versucht, Mut zu fassen, und der Mama einen Segen gesprochen. Der Papa hat in einem Nebenzimmer gewartet. Die Hebamme hat ihm das Baby in einem Tuch übergeben und wir haben nur miteinander geweint. So eine Situation geht tief unter die Haut. Es ist vielleicht einer der schwierigsten Momente in der seelsorglichen Begleitung.

Wie gehen Sie mit diesen Situationen um?
Ich versuche, den Eltern zuzuhören und sie zu fragen, was sie auf dem Herzen haben. Wenn wir vor einer stillen Geburt geholt werden, können wir oft stärker ins Gespräch gehen. Wenn das Kind schon da ist, ist viel Schweigen. Es ist nicht nur eine stille Geburt, sondern es ist einfach wirklich still rundherum, eine ewige Stille. Man ist nah an der Ewigkeit und berührt von ihr. Mir ist aber auch sehr wichtig, die Lebenszeit des Kindes zu würdigen, zu sagen: Sie sind die Mama, Sie sind der Papa dieses Kindes. Und mir ist wichtig, das Kind zu begrüßen. Denn wenn man nicht begrüßt, kann man auch nicht Abschied nehmen. Mir persönlich helfen das Gebet und das Gespräch im Team der Klinikseelsorge.

Gehen Frauen und Männer unterschiedlich mit diesem schweren Verlust um?
Frauen spüren aus der physischen Situation heraus, dass, wo alles lebensaufbauend war, jetzt alles zusammenbricht. Frauen sprechen auch viel intensiver von ihrer Verzweiflung und Angst. Die meisten Männer sind bei der Geburt dabei, kommen dann aber seltener zu Gesprächen mit, besonders, wenn das Kind in der frühen Schwangerschaft stirbt. Im Trauerprozess danach sind die Mütter oft alleingelassen. Aber auch die Väter sollten zu ihren Emotionen stehen und sie aufarbeiten.

Hadern Betroffene auch mit dem eigenen Glauben?
Sehr oft. Das ist eine ganz natürliche Reaktion eines gläubigen Menschen. Wir dürfen unsere Klage und Wut vor Gott bringen. Auch Jesus hat gesagt: „Warum hast Du mich verlassen?“ Gott hält diese Zweifel viel besser aus als wir.

Kann der Glaube in dieser Situation auch eine Stütze sein?
Ganz bestimmt. Glaube kann Kraft und Trost schenken. Oft sind wir aber viel zu schnell mit Ritualen. Glaubensrituale sind eine sehr intime Sache. Dazu braucht es eine innere Zustimmung. Das kann nicht von außen kommen. Wenn der Wunsch da ist, haben wir mittlerweile viele Angebote. Wir haben zum Beispiel ein Namensgebungsritual entwickelt, das sehr gut angenommen wird. So haben wir seit 2004 zu unterschiedlichen Infrastrukturen in Tirol beigetragen, um trauernde Eltern zu unterstützen. Wir setzen uns im Team der Klinikseelsorge gemeinsam für Sternenkindergräber, -gedenkstätten und -gedenkfeiern ein.

Portrait Tomy Mullur

Der in Indien geborene Theologe Tomy Mullur (59) ist seit mehr als 20 Jahren als Krankenhausseelsorger in der Diözese Innsbruck tätig. Erst durch seine Arbeit zum Thema Sternenkinder erfuhr er von seinen Eltern, dass er nicht wie gedacht fünf, sondern sieben Geschwister hat, von denen zwei still geboren wurden.



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