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Warum Rituale für Familien so wichtig sind

Im hektischen Familienalltag bleiben Rituale oft auf der Strecke, beobachtet Erziehungsexperte Jan-Uwe Rogge. Er plädiert dafür, sie mit viel Emotionalität wieder zu pflegen und die Kinder aktiv in die Gestaltung der Rituale miteinzubeziehen.

veröffentlicht am 03.01.2025

Jede Familie hat ihren eigenen Rhythmus. Trotzdem lohnt es sich für alle, Rituale zu pflegen. Warum ist das wichtig?
Rituale geben Halt und bieten eine Struktur. Sie sind für die Kinder genauso wichtig wie für die Eltern. Denn auch die Eltern sollen Freude daran haben. Wenn sie das Ritual nur mit Stress verbinden und es als weiteren Punkt auf der To-Do-Liste sehen, bringt es nichts. Wichtig ist, dass Kinder und Eltern gemeinsam das Ritual gestalten. Es muss dabei nicht immer alles perfekt sein. Da gilt der Grundsatz: Weniger ist mehr – und dieses Mehr bedeutet Beziehung, Zufriedenheit und Freude, mit den Kindern gemeinsam Zeit zu verbringen. Es geht nicht um die grandiose Show. Die wollen Kinder gar nicht. Kinder wollen Beziehung und authentische Eltern, die sie an der Gestaltung des Rituals teilhaben lassen.

Laufen Eltern denn Gefahr, eher eine Show bieten zu wollen?
Ich beobachte, dass wir es in den vergangenen fünf Jahrzenten mit einer Entritualisierung im Alltag zu tun haben. Bestimmte wichtige Rituale werden aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen nicht mehr gepflegt. Nehmen wir als Beispiel das Frühstück, das oft nicht mehr gemeinsam stattfindet, sondern mehrmals hintereinander, weil die Familienmitglieder morgens zu unterschiedlichen Zeiten das Haus verlassen. Oder der Kaffee wird mit einem Coffee to Go im Gehen unterwegs getrunken oder schnell was vom Bäcker geholt und auf dem Weg zur Arbeit gegessen. Mit dem Resultat, dass sich die Familie häufig nur noch am Wochenende zu gemeinsamen Ritualen zusammenfindet, die dann überfrachtet werden.

Was kennzeichnet ein Ritual vor allem?
Rituale sind immer an Raum und Zeit gebunden. Als klassisches Ritual kann man den Gottesdienst nennen. Der Gottesdienst beginnt und endet zu einer bestimmten Zeit, findet immer im selben Kirchenraum nach demselben Ablauf statt. Das gibt Sicherheit und Orientierung. Dieses Prinzip lässt sich auf Familienrituale übertragen. Das sonntägliche Mittagessen findet immer zu einer ähnlichen Zeit statt, am Essenstisch der Familie und der Ablauf ist mit Vor-, Hauptspeise und Nachtisch ebenfalls vorgegeben. Man tauscht sich aus und gestaltet diese Zeit gemeinsam. Auch beim Gute-Nacht-Ritual ist das so. Zeit, Ort und Ablauf sind klar. Es gibt einen festen Abschluss des Rituals, indem man dem Kind einen Gute-Nacht-Kuss gibt oder einen Segen spricht. Nun ist das Ritual zu Ende – und das ist wichtig für Rituale. Es gibt keine Verlängerung.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, um Rituale in der Familie einzuführen?
Das beginnt eigentlich von Anfang an. Das Kind gibt durch seine Entwicklung vor, welche Rituale geeignet sind. Bei Säuglingen sind die Rituale andere als bei Kleinkindern oder Heranwachsenden. Aber Rituale geben von Geburt an Sicherheit.

Sind Rituale vor allem etwas für kleine Kinder oder brauchen auch Teenager zwischen 13 und 19 Jahren noch Rituale?
Pubertierende revoltieren gerne gegen Rituale. Die wollen nicht mehr in den Gottesdienst, finden Familienfeste blöd und haben keine Lust auf einen sonntäglichen Spaziergang. Dann ist es an der Zeit, bestimmte Rituale durch andere zu ersetzen. Wenn die Kinder nicht mehr mit den Eltern spazieren wollen, sollte man sie miteinbeziehen und fragen, was sie stattdessen machen wollen. Man ersetzt das Ritual, aber man lässt es nicht ersatzlos fallen. Kritik ist also nur die Aufforderung, es anders zu machen, das Ritual zu verändern und ihm einen neuen Inhalt zu geben. Das Ritual deswegen einfach zu streichen, ist zwar bequem, dient aber nicht dem Zusammenhalt der Familie.

Über die Gestaltung der Rituale entscheidet also die ganze Familie.
Ja und nein. Wenn die Kinder noch sehr klein sind, werden sie nicht direkt formulieren, welche Rituale sie brauchen. Wenn sie älter werden, können und sollen sie das Ritual mitgestalten. Aber die Verantwortlichkeit, dass Rituale gelebt werden, liegt trotzdem immer bei uns Erwachsenen.

Früher haben sich Rituale noch selbstverständlicher aus dem Jahresablauf ergeben. In vielen Regionen war der Sonntag ganz klar mit dem Gang in die Kirche verbunden. Die christlichen Feste wie Ostern, Pfingsten, Erntedank oder Weihnachten waren wichtige Rituale. Das weicht zum Teil heute auf, aber die Bedeutung von Ritualen für uns Menschen bleibt. Sie helfen uns, der Unendlichkeit von Zeit eine verlässliche Struktur zu geben, eine Struktur, die ich spüren, erleben und mitgestalten kann.

Beruf und Familie zu vereinen, stellt für die meisten Eltern eine große Herausforderung dar. Der Alltag ist hektischer geworden. Brauchen wir daher Rituale nicht sogar noch dringender als vor 50 Jahren?
Ob wir sie mehr oder dringender brauchen, weiß ich nicht, aber wir brauchen sie wieder. Wir müssen sie mit viel Emotionalität wieder pflegen. Da komme ich zu der anfangs erwähnten Show zurück. Was man heute zum Beispiel alles rund um den Kindergeburtstag macht, ist vollkommen überkandidelt. „Back to the roots“ kann ich da nur raten. Wenn es einem nicht liegt und man keinen Spaß daran hat, muss man am Sonntag auch kein Drei-Gänge-Menü auffahren. Es reicht genauso, sich am Sonntag eine Viertelstunde mit einer Tasse Tee zusammenzusetzen, sich in die Augen zu schauen und sich dabei einfach gegenseitig großartig zu finden und angenommen zu fühlen.

Portrait Jan-Uwe Rogge

Jan-Uwe Rogge ist erfolgreicher Buchautor, Familien- und Kommunikationsberater. Seine Vorträge und Seminare enthalten stets eine gehörige Portion Humor. Er lebt in der Nähe von Hamburg, schreibt einen eigenen Blog und ist regelmäßig als Experte für Erziehungsfragen in Rundfunk- und Fernsehsendungen zu Gast.


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