Raum schaffen
Zusammen leben mit wenig Platz
Wie sich auch kleine Häuser und Wohnungen so gestalten lassen, dass Erwachsene, Kinder und Jugendliche sich wohlfühlen. Ein Interview mit der Psychologin Antje Flade.
veröffentlicht am 01.07.2016
Wie viel Platz braucht eine Familie?
Das hängt natürlich von der Zahl der Personen im Haushalt ab. Handelt es sich um einen alleinerziehenden Elternteil mit Kind oder um eine traditionelle Familie mit Mutter, Vater und mehreren Kindern? Die Quadratmeterzahl lässt sich also nicht an einem einzelnen Wert festmachen. Wichtig ist aber in jedem Fall ein guter Grundriss, der das Zusammenleben erleichtert. Dazu gehören gemeinsam zu nutzende Bereiche und Individualräume. Wie groß die einzelnen Räume bemessen sind, hängt von der Lebenslage ab, das heißt, konkret davon, wie viel Geld die Familie zur Verfügung hat, und ob man in der glücklichen Lage ist, die Wunsch-Wohnung zu finden. Entscheidend ist hier das Anspruchsniveau und auch die Bereitschaft, es zu unterschreiten.
In bevölkerungsreichen Ländern, in denen ein großer Teil der Bevölkerung arm ist, wohnen die Menschen oft sehr eng zusammen auf kleinstem Raum, was durchaus funktioniert. Das Anspruchsniveau ist hier, gemessen an dem der westlichen Gesellschaft, sehr niedrig. In einer Gesellschaft wie der unseren sehen die Quadratmeterzahlen, die man für erforderlich hält, ganz anders aus.
Wie kann eine Familie hier bei uns in Deutschland, die nur sehr wenig Platz zur Verfügung hat, ihren Wohnraum so gestalten, dass er die Bedürfnisse aller Familienmitglieder bestmöglich erfüllt?
Jede Person sollte einen eigenen Raum oder wenigstens einen eigenen Bereich, eine Rückzugsmöglichkeit haben. Das gilt für alle Familienmitglieder, für die Erwachsenen und die Kinder und Jugendlichen. Man ist viel mit anderen Menschen zusammen, doch manchmal ist es nicht so einfach sich zurück zu ziehen. Einen solchen Rückzugsraum gibt es jedoch nur im eigenen Zuhause, nicht jedoch zum Beispiel im Arbeitsleben oder in öffentlichen Räumen. Deshalb sollte man auf diesen Rückzugsraum großen Wert legen. Man beachte dabei jedoch, dass für die Menschen, die allein leben, die ganze Wohnung ein Rückzugsraum ist. Bei den Alleinwohnenden taucht eher das Problem auf, dass sie das Zusammensein entbehren.
Doch hier geht es um Familien! Noch mal zurück zum Grundriss. Ein größeres Zimmer kann so angelegt werden, dass es teilbar ist, das heißt, es hat zwei Fenster und zwei Türen. Solange die Kinder klein sind, ist ein großer Raum mit einer Spielfläche in der Mitte vorteilhaft. Bei Jugendlichen sieht es anders aus. Sie sind glücklicher, wenn sie einen eigenen Raum haben, der durchaus klein sein kann.
Die Teilbarkeit und auch wieder Zusammenschaltbarkeit von größeren Räumen ist nur eines der Prinzipien, das Flexibilität gewährleistet, die in Wohnungen von Familien besonders wichtig ist, weil sich durch das Älterwerden der Kinder die Familienstrukturen ständig verändern. Ein weiteres Prinzip ist die Nutzungsoffenheit der Wohnräume, das heißt, die Räume sind so angelegt, dass sie nicht von vornherein in ihrer Nutzung festgelegt sind. Früher gab es die sogenannte „Hierarchie der Wohnräume“: Der größte Raum war das Wohnzimmer, dann kam das Elternzimmer, und die Kinder bekamen die kleinsten Räume. Zum Glück ist das heute anders! Wenn man eine Wohnung so anlegt, dass die Zimmer alle ähnlich groß sind, kann man sie unterschiedlich nutzen. Die Mindestgröße für einen solchen Raum liegt bei etwa 14 Quadratmetern. Ein solcher Raum lässt sich als Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer nutzen. Auch als komfortables Home Office ist er gut geeignet.
Wie sieht der Grundriss für das perfekte Kinderzimmer aus?
Bei Kindern folgen unterschiedliche Lebensphasen rasch aufeinander. Das bedeutet schon einmal, dass das Zimmer für einen längeren Zeitraum passend sein sollte. Es ist ein Spielraum, in dem das Kind nicht immer gleich aufräumen muss, weil es ein eigener Raum ist, in dem das Unaufgeräumte niemanden sonst stört. Ab dem Schulalter wird das Kinderzimmer gleichzeitig zum Wohnzimmer für das Kind. Die Freunde kommen hier zusammen. Dann ist es auch ein Arbeitszimmer, in dem die Hausaufgaben erledigt werden müssen. Kinder brauchen Platz in ihrem Zimmer, weil die Nutzungen so vielfältig sind.
Ist es für unser psychisches Wohlbefinden ein Unterschied, ob wir in einer kleinen Plattenbau-Wohnungoder in einer Villa mit Garten leben?
Zu sagen, Plattenbau ist schrecklich, wäre zu einfach. Wenn jemand sagt, ich lebe hier und kann mir eine Villa nie im Leben leisten, wird er sein Anspruchsniveau danach ausrichten. Wohnzufriedenheit ist so durchaus auch eine individuelle Konstruktion, in der das Anspruchsniveau eine große Rolle spielt. Manche Menschen sind auf kleinstem Raum sehr glücklich, andere sind trotz sehr geräumiger Wohnverhältnisse nicht zufrieden. Der Mensch in der Villa kann ein unglücklicher Mensch sein, obwohl er objektiv betrachtet im Paradies lebt. Es ist zum einen nicht die Wohnung allein, die Lebenszufriedenheit spendet, zum anderen ist es das individuelle Anspruchsniveau. Wie maßgeblich dies ist, zeigt das sogenannte Zufriedenheitsparadox. Es mutet paradox an, wenn Menschen unzufrieden sind, obwohl ihre Lebensbedingungen vergleichsweise gut sind, oder wenn sie zufrieden sind, auch wenn ihre Lebenssituation objektiv zu wünschen übrig lässt. Menschen mit einem hohen Anspruchniveau neigen eher zur Unzufriedenheit, während diejenigen, die wenig erwarten, auch mit Wenigem zufrieden sind.
Inwiefern wird das soziale Miteinander von Kindern durch solche ungleichen Wohnverhältnisse geprägt?
Es ist interessant, wie Kinder darauf reagieren, wenn sie Kindern, die in anderen Wohnverhältnissen leben, begegnen. Sie erkennen, dass es auch andere Lebenslagen gibt. Und sie stellen vielleicht fest, dass das andere Kind sehr nett ist, mit dem es befreundet sein möchte. Kinder machen hier die Erfahrung, dass die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, auch noch anders aussieht, als man es aus der eigenen Familie kennt.
Gibt es Räume, die glücklich, und andere, die unglücklich machen können?
Unglücklich ist man in Räumen, die einem das Gefühl von Unfreiheit geben, die beengt und dunkel sind, in denen man sich isoliert fühlt und der Lärm von der Hauptverkehrsstraße draußen herein dringt. Räume, in denen man sozial und von Sinneseindrücken abgeschlossen ist, machen nicht nur unglücklich, sondern auch krank. Bei großen, hellen Räumen dagegen, die schöne Ausblicke bieten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man positiv gestimmt ist, deutlich höher. Hier zeigt sich, wie wichtig die Atmosphäre von Räumen für das Wohlbefinden ist.
Inwiefern berücksichtigen heute Architekten, die für Familien bauen, dass beim Entwurf von Wohnraum auch psychologische Kriterien eine Rolle spielen?
Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass man Wohnungen sehr flexibel bauen muss. Es gibt heute ganz unterschiedliche Haushaltstypen: Singles, Paare, Familien. Wobei der Typ Familie seltener geworden ist. Man muss Wohnungen heute so bauen, dass sie für alle Haushaltstypen geeignet sind. Zudem lebt man nicht mehr für alle Ewigkeit in ein- und derselben Wohnung. Architekten sollten aber noch aus einem weiteren Grund nutzungsoffen bauen: Die Bewohner sollten die Gelegenheit haben, ihre Wohnung zu personalisieren, indem sie zum Beispiel Bilder an die Wände hängen, bestimmte Möbel darin unterbringen oder eine selbst ausgesuchte Küche einbauen lassen. In den normalen Wohnungen sind diese Spielräume längst selbstverständlich, nicht jedoch in den Kleinstwohnungen und Mikroapartments, die eher an Hotelzimmer als an Wohnungen denken lassen.
Neubauten haben oft riesige Garagen oder Tiefgarageneinfahrten im Vorgarten stehen. Ist es noch zeitgemäß, dass das Auto so viel Platz bekommt?
Das Auto gehört in unsere wohlhabende Gesellschaft hinein. Das Problem ist jedoch, dass es viel Platz beansprucht, der in den Städten immer rarer wird, und dass es den ästhetischen Eindruck schmälert. Der öffentliche Raum könnte viel schöner sein, wenn die vielen Autos nicht wären. Auch Garagen sind hässlich.
Das Anspruchsniveau spielt hier wieder eine große Rolle. Man hat nicht nur eine Immobilie, sondern auch eine Mobilie, also ein Auto. Damit das Auto gegen das Fahrrad eingetauscht wird, muss sich nicht nur die Verkehrsinfrastruktur verändern. Auch in den Köpfen muss sich hier etwas tun.